Das geschah auf dem Salon du livre de Montréal 2014

23. Dezember 2014 | Reportage

Am 19. November startete in diesem Jahr der Salon du livre de Montréal. Ein erster Blick in das Begleitprogramm zeigte, wie viele Autoren anwesend waren. Auf 32 Seiten wurde über deren Autogrammstunden und auf weiteren Seiten über Diskussionsrunden und weitere Veranstaltungen informiert.
Der Salon du livre wurde dann am Abend offiziell eröffnet, u.a. sprachen zu diesem Anlass der Autor Dany Laferrière und der Bürgermeister von Montréal Monsieur Coderre, der die Stadt als kulturelle Metropole beschrieb und als Stadt, in der Molière und Shakespeare sich getroffen haben. Nach den offiziellen Reden wurde die Vorauswahl für den Prix des libraires du Québec 2015 in den beiden Kategorien „Roman außerhalb von Québec“ und „Québecer Roman“ vorgestellt, ein erster Preis von weiteren, die in den nächsten Tagen folgten wie der Prix de poésie des Collégiens, der an Jonathan Charette für seinen Gedichtband Je parle arme blanche (Noroît) ging und der Prix des écrivains francophones d’Amérique, dessen Preisträgerin in der Kategorie „Roman“ Hélène Dorion mit Recommencements (Druide) ist.
Die jeweils ausgewählten 12 Titel für den Prix des libraires du Québec 2015 werden im Januar 2015 auf fünf reduziert, bevor im Mai 2015 die beiden Preisträger bekannt gegeben werden. In diesem Jahr ging der Prix des libraires du Québec an Larry Tremblay und seinen erfolgreichen Roman L’orangeraie. Folgende Québecer Romane wurden ausgewählt: Sports et divertissements von Jean-Philippe Baril Guérard (Ta Mère), Le vertige des insectes von Maude Veilleux (Hamac), Azami von Aki Shimazaki (Leméac), Ma vie rouge Kubrick von Simon Roy (Boréal), Go West, Gloria von Sarah Rocheville (Leméac), La maison d’une autre von François Gilbert (Leméac), Forêt contraire von Héléne Frédérick (Gallimard), Le feu de mon père von Michael Delisle (Boréal), Les États-Unis du vent von Daniel Canty (La Peuplade), Nous étions le sel de la mer von Roxanne Bouchard (VLB), Numéro six von Hervé Bouchard (Le Quartanier) und L’Angoisse du poisson rouge von Mélissa Verreault (La Peuplade).
Und noch eine letzte Aufzählung, denn für den Grand prix littéraire Archambault 2015 wurden die zehn Finalisten bekannt gegeben: Christian Guay-Poliquin mit Le fil des kilomètres (La Peuplade), Véronique Bossé mit Vestiges (Lévesque éditeur), Jean-Michel Fortier mit Le chasseur inconnu (La Mèche), Ghayas Hachem mit Play boys (Boréal), Steph Rivard mit Les fausses couches (Ta Mère), Francine Brunet mit Le nain (Stanké), Pascale Wilhelmy mit Où vont les guêpes quand il fait froid? (Libre expression), Alice Michaud-Lapointe mit Titre de transport (Héliotrope), Geneviève Pettersen mit La déesse des mouches à feu (Le Quartanier) und Mathieu Meunier mit Un vélo dans la tête (Marchand de feuilles).

Beim Schreiten durch die Gänge des Salon du livre und vor allem beim Verarbeiten zahlreicher Eindrücke, fiel mir ein erstes bekanntes Gesicht auf. Alexandre Sanchez hatte ich auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2014 kennengelernt. Sie ist Verlegerin bei Lux éditeur, einem unabhängigen Verlag, der Werke zur amerikanischen Geschichte, politischen Themen sowie Prosa, Theater und Poesie herausgibt. Alexandre Sanchez empfahl mir zwei Bücher aus dem aktuellen Programm von Lux éditeur, Tenir tête von Gabriel Nadeau-Dubois und Sœurs volées. Enquête sur un féminicide au Canada von Emmanuelle Walter.

„Gabriel Nadeau-Dubois war der Wortführer der CLASSE, einer der drei Studentenvereinigungen in Québec, der jedes Mal, wenn er im Namen der CLASSE unterwegs war, präzisieren musste, dass er die Entscheidungen der CLASSE vermittelt. Am Ende des Streiks im August 2012 schied er dann aus. Er begann, das Buch zu schreiben, in dem er den Streik zum ersten Mal aus seiner Perspektive erzählt. Im Buch alternieren erzählerische Passagen mit argumentativen, die den zentralen Teil des Buches bilden und in dem er z.B. für die Unentgeldlichkeit von Bildung zur Bewahrung des Québecer Gemeinwohls eine starke Argumentation liefert“, informierte Alexandre Sanchez.
Gabriel Nadeau-Dubois wurde für Tenir tête in diesem Jahr der Prix Gouverneur général in der Kategorie „Essay“ zugesprochen. Alexandre Sanchez verriet mir, dass er den Preis verdient habe, denn in dem Buch entdecke man ihn als Denker. Allerdings entschied er sich dazu, das Preisgeld nicht anzunehmen, sondern dieses Geld den Menschen zu geben, die gegen eine schadhafte Politik der föderalen Regierung kämpfen, also Leuten, die für die Erhaltung des Gemeinwohls kämpfen. Wenige Tage später gab er in der Fernsehsendung Tout le monde en parle bekannt, welcher Organisation er das Geld zukommen lassen wollte und in welcher Form. Er richtete ein Konto ein und rief die Menschen dazu auf, die Summe durch Spenden zu erhöhen. Die deutlich gestiegene Gesamtsumme ging dann an Coule pas chez nous.
Als zweiten Band stellte sie mir kurz den aktuellen Band Sœurs volées von Emmanuelle Walter vor: „Kurz nachdem die Journalistin vor etwa fünf Jahren aus Frankreich in Québec angekommen war, entdeckte sie, dass 1200 der einheimischen Frauen seit 1980 getötet wurden oder verschwunden sind, ohne dass das jemanden beunruhigt hat. Und das stellt ein Problem dar. Diese Frauen befinden sich in einem Zyklus der Verletzbarkeit: Sie sind verwundbar, weil sie Frauen sind, weil sie autochthon sind, weil sie arm sind, manchmal weil sie Prostituierte sind, manchmal weil sie alleinerziehend sind, manchmal weil sie drogenabhängig sind. Weil sie nicht als Bürgerinnen angesehen werden, ist das den Leuten egal, wenn sie sterben oder verschwinden. Emmanuelle ist es in dem Buch gelungen, den Fall von zwei jungen Mädchen im Alter von 16 und 17 Jahren aufzuzeigen, die 2008 verschwunden sind und all ihre Sachen zurück gelassen haben. Die Polizei vermutete, dass sie abgehauen sind, um Drogen zu besorgen. Sie zählten somit die gängigen Klischees über die Eingeborenen auf, ohne der Sache nachzugehen. Es gab keine Ermittlungen und die wenigen Indizien, die dazu beigetragen hätten, sie zu finden, waren verschwunden. Das geschieht viel zu oft.“

Am Abend hatte ich die Gelegenheit, den jungen, ambitionierten Autor William Drouin kennenzulernen, der mit L’enfant dans la cage seinen ersten Roman bei XYZ veröffentlicht hat.

Er betonte in einem Gespräch über sein Buch, dass es darin wirklich um ein Kind in einem Käfig gehe. Es handele sich dabei nicht um eine Metapher oder ähnliches. Ein Vater zwinge in dem Roman sein Kind dazu, in einem Käfig zu sein, um ihm den Tod seiner Mutter zu verbergen und ihn dazu zu drängen, einen Roman zu schreiben. Der Junge, weihte mich der Autor ein, „ist zwischen 7 und 12 Jahre alt. Er erzählt davon, was er hört, was in dem Haus geschieht und was er darin sieht. Er geht sogar so weit, davon zu berichten, was er gar nicht sieht, wie ein Erzähler, der nicht wirklich anwesend ist.“ Dabei verdränge er die Trauer um seine Mutter und seinen Bruder, indem er sich in seine Vorstellungskraft flüchte, erklärt mir William Drouin weiter: „Er weint nicht um seine Mutter. Nie wird er emotional, bis zum Schluss. Er gerät ins Stolpern. Man merkt, dass es nicht mehr geht, dass sich der Schmerz aufgestaut hat, von dem er nie gesprochen hat.“
William Drouin ist voller Ideen und konzentriert sich, so scheint es, nur noch auf das Schreiben. Er verriet mir, dass er seinen zweiten Roman bereits beendet hat und dass dieser bald veröffentlicht würde, dass er an seinem dritten Roman schreibe und dass die Ideen für Roman Nummer vier und fünf ebenfalls vorhanden sind.
Wann immer ich mit einem Autor spreche, der Teil der Québecer Literatur ist, bin ich neugierig, welche Romane der Québecer Literatur er selbst gelesen hat. William Drouin nannte mir Anne Hébert als seine Lieblingsautorin, von der er sehr beeindruckt ist, vor allem von ihren Werken L’enfant chargé de songes, Les fous de bassan und Les chambres de bois.

Am 21. November 2014 präsentierte Québec Édition eine Veranstaltung mit der sympathischen und erfolgreichen Autorin Kim Thúy und ihren Verlegern aus Québec, Kanada, Deutschland, Schweden und England. Die Autorin selbst moderierte die Veranstaltung und zeigte durch ihre Fragen den Weg eines Manuskripts zum Hausverlag und von da an bis zu weiteren Verlagen in anderen Ländern auf. Die Verleger erzählten, wie die Romane Ru und Mān der Autorin zu ihnen gelangten und was sie bei der Wahl des Titels und des Covers für ihren eigenen Markt beachteten. Schließlich berichtete Kim Thúy von ihren Reisen und Terminen in den jeweiligen Ländern, in denen ihre Romane bereits erschienen sind. Im Anschluss an diese Veranstaltung schwärmte Carole Boutin, zuständig für Rechte und Lizenzen bei der Groupe Librex, von dem Roman Va chercher. L’insolite destin de Julia Verdi von Geneviève Lefebvre vor, der in diesem Jahr bei Libre Expression erschienen ist. Geneviève Lefebvre schrieb zuvor Krimis. Va chercher wird aber vielleicht nicht ihr einziger Roman neben ihren Krimis sein, denn eine Fortsetzung ist zumindest angedacht.
„Julia Verdi, die Hauptfigur im Roman, ist 37 Jahre alt und wurde gerade von einem Mann verlassen. Sie ist wütend und glaubt, dass er Schuld an der Trennung hat. Daraufhin beschließt sie Kontakt zu ihrer damaligen Jugendliebe aufzunehmen, die sie damals verlassen hatte. Sie kontaktiert ihn und sie beschließen sich zu treffen. Doch auf dem Weg dorthin weicht er mit dem Auto einem Tier auf der Straße aus und verunglückt. Das ist der Anfang der Geschichte. Als sie die Nachricht erhält, ist sie am Boden zerstört. Eines Abends als sie nach Hause kommt, entdeckt sie in einer Gasse einen angeleinten Hund. Weil es kalt, Winter und November ist, beschließt sie, auch wenn sie Hunde nicht mag, ihn übergangsweise mit zu sich zu nehmen. Dort versorgt sie ihn mit demselben Essen, das sie zu sich nimmt und sucht nach dem Herrchen. Aber niemand kommt, um den Hund abzuholen. Weil sie sich um ihn kümmern muss, ändert sich mit der Zeit ihre Sicht auf die Dinge und auf ihre Beziehungen zu den Menschen aus ihrer Umgebung“, erzählte Carole Boutin.
Es scheint ein Roman zu sein, der viele Leser findet. Neben dem Québecer Publikum haben bald auch die Franzosen Gelegenheit, den Roman in dem Buchladen ihrer Wahl zu erwerben, denn in Frankreich wird er im April 2015 beim Verlag Robert Laffont herausgebracht.
An diesem Tag voller neuer Eindrücke auf dem Salon du livre treffe ich auch Geneviève Harvey, die für die Presse bei XYZ zuständig ist. Sie verriet mir, warum die drei Bücher von Hugo Léger, William Drouin und Jérôme Minière zu ihren Favoriten aus dem aktuellen Programm des Verlags gehören: „Hugo Léger hat vor zwei Jahren seinen ersten Roman mit dem Titel Tous les corps naissent étrangers lanciert. Er arbeitet in der Werbebranche und ist Direktor eines der größten Werbehäuser in Montréal, Québec. Er hat einen schwarzen Humor. Le silence du banlieusard ist beinah ein Thriller, ein Krimi, der in einem besonderen Kontext spielt: in der Vorstadt. Hinter dem Leben der Vorstädter, die außerhalb der Stadt ein ruhigeres Leben suchen, verbirgt sich ein Drama. Man lacht, man knirscht die Zähne, man verfolgt eine Art von Leben, in dem der Autor die Klischees verstärkt, z. B. gibt es eine Frau, die in ihrem Haus in der Banlieue nichts anderes zu tun hat, als Fehler in den Werbeprospekten der Supermärkte zu suchen.“ Als zweiten Roman nannte sie mir L’enfant dans la cage von William Drouin, einem neuen Autor bei XYZ, der mir so erneut über den Weg läuft. „Der Stil von William führt einen in eine Situation der Befangenheit, des Durcheinanders, so dass man irritiert ist. Man fragt sich ständig, ob man dort hin möchte, wo er einen hinführt. William Drouin ist jemand, der keine Angst vor seinen Worten hat. Er hat mit seinem Debütroman irritiert und er wird es weiterhin tun“, lautet Geneviève Harveys Fazit. Bevor ich weiter durch die Halle mit der unglaublichen Geräuschkulisse gehe und dabei an zahlreichen Autoren vorbeischreite, die hinter den Büchern stehen, hat sie noch ein letztes Ass im Ärmel und zwar den ersten Roman des Musikers und Produzenten Jérôme Minière, L’enfance de l’art. Doch viel möchte sie nicht über diesen außergewöhnlichen Roman verraten: „Es ist die Geschichte eines sehr gemächlichen Mannes, eines Bankangestellten, der weiterhin sein ruhiges Leben leben wollte. Aber gegen seinen Willen findet er sich inmitten eines außergewöhnlichen Abenteuers in Montréal wegen einer Taube. Diese Taube ändert sein Leben.“ Wer mehr über L’enfance de l’art erfahren möchte, findet hier die Rezension auf quélesen.
Ein neuer Tag lockte mit einer Veranstaltung bereits am Vormittag des 22. November 2014 zum Salon du livre. Fünf Verlegerinnen und Verleger aus Deutschland, Argentinien, China, Serbien und Italien gewährten Einblicke in ihre Märkte und Auswahlkriterien für die Übersetzung fremdsprachiger Werke, die in ihren jeweiligen Ländern eine unterschiedliche Rolle spielen. Sie kamen in diesem Jahr, um mehr über den Québecer Buchmarkt zu erfahren und neue Autoren, Stile und Themen in den unterschiedlichsten Genres für ihre Verlagsprogramme zu entdecken.
Ein Verlag, der einige Neuigkeiten in diesem Jahr zu verkünden hatte, ist z.B. Lévesque éditeur. Verlagsgründer Gaëtan Lévesque berichtete mir von einer neuen Reihe namens Carnets d’écrivain, die aus einem Atelier des Herausgebers der Reihe Robert Lalonde entstanden ist. In diesem Atelier zum Thema „Schreiben in literarischen Notizbüchern“ sind einige interessante Manuskripte entstanden, die nun beim Verlag herausgegeben werden. Es sind dünne Büchlein von 120 Seiten im Taschenbuchformat, von denen in diesem Jahr bereits zwei erschienen sind: Comme une seule voix von einem Kollektiv aus fünf Autoren und L’enfant qui ne voulait plus dormir von Yvon Paré. Bei Lévesque éditeur kam 2014 ein umfangreicher, illustrierter Band heraus mit dem Titel Archéologie de l’Amérique coloniale française. Ausgehend von archeologischen Ausgrabungen wird darin die Geschichte des französischen Amerikas rekonstruiert. Der Band wurde bereits 2014 mit dem Prix Lionel-Groulx ausgezeichnet. Das war nicht der einzige Preis für den Verlag, wie mir Gaëtan Lévesque erzählte: „Ich habe in diesem Jahr Étienne Beaulieu veröffentlicht. Seine Erzählung heißt Trop de lumière pour Samuel Gaska, für die er 2014 den Literaturpreis Jacques-Cartier erhalten hat. Er wurde auch für den Literaturpreis des französischen Festival du premier roman in Chambéry nominiert und vermutlich wird es einen weiteren Preis geben.“ Und den gab esdann auch wirklich, nämlich 2014 den Prix Alfred-DesRochers.

Am Stand von Le Quartanier signierten an diesem Nachmittag Samuel Archibald, Hervé Bouchard, Mathieu Arsenault und Éric Plamondon gemeinsam. Das war ein sehr einladendes Bild und ich ergriff die Gelegenheit, zwei der vier Autoren zu ihren bereits erschienen Werken und kommenden Projekten zu befragen.

Samuel Archibald, Autor von Arvida und Quinze pour cent, fasste mir in seinen eigenen Worten zusammen, worin es in seiner ersten Veröffentlichung geht und welche unerwarteten, schönen Reaktionen er darauf erhielt: „Arvida ist ein Erzählband und vereint die unterschiedlichsten Erzählungen aus meiner Heimatregion. Arvida ist die Stadt, in der ich geboren bin und es ist eine Modelstadt, die von der Industrie, in diesem Fall von der Aluminiumfabrik Alcan, gebaut wurde, um deren Angestellte unterzubringen. Sie wurde innerhalb von 135 Tagen errichtet. Mein Buch ist um die Idee herum organisiert, dass es in solch einer Stadt keine Geschichte im wörtlichen Sinne gibt. Es gibt nur mehrere Geschichten, kleine Geschichten, die man sich gegenseitig erzählt und die uns dann als gemeinsame Geschichte nutzen. Arvida wurde ziemlich schnell ein großer Erfolg. Es hat viele Leute sowohl aus meiner Heimat als auch aus den anderen Regionen Québecs angesprochen. In den zwei Jahren, die auf die Veröffentlichung von Arvida folgten, habe ich Familienfotos und Anekdoten von Unbekannten zugeschickt bekommen, die auf die Geschichten im Band reagierten oder mit ihnen in Dialog traten. Einige Leser schickten mir Nachrichten via Twitter, Facebook oder per Mail, in denen es hieß: ‚Diese Geschichte, die sie erzählt haben, erinnert mich an jene Geschichte, die wir erlebt haben.‘ Das ist wahrscheinlich das größte Kompliment, das man bekommen kann, dass die Geschichten Leute dazu bringen, sich an ihre eigenen zu erinnern und diese wiederum zu erzählen.“

Als Éric de Larochellière ihn sowie neun weitere Autoren des Verlags ansprach und bat, einen kurzen Text mit 13-15000 Wörter zu verfassen, die zum 10-jährigen Verlagsjubiläum in der Reihe Nova 2013 veröffentlicht wurden, entstand Quinze pour cent. Für den Text hat Samuel Archibald seine Komfortzone verlassen und sich dem Genre Krimi zugewandt, was, wie er mir gestand, ein alter Traum war, aus dem sich neue Projekte ergeben haben: „Ich hatte meine Freude daran, einen düsteren Roman zu schreiben und diese Übung hat mich angestachelt. So werde ich, und das ist eines meiner aktuellen Projekte, eine Serie von Krimis schreiben. Durch diese Idee des Verlegers habe ich eine erste Etappe gemeistert und Lust bekommen, das Genre zu vertiefen.“
Nachdem mir Samuel Archibald seine aktuellen Favoriten der Québecer Literatur nannte: Le feu de mon père von Michael Delisle, Chant pour enfants morts von Patrick Brisebois und Hervé Bouchard, der einst sein Lehrer und heute sein Autorenkollege ist; sprach ich mit Éric Plamondon über seine Trilogie 1984.

Die Trilogie 1984 besteht aus den Büchern Hongrie-Hollywood Express, Mayonnaise und Pomme S, die alle aus der Feder Éric Plamondon’s stammen. Seine Verknüpfung von Fakt und Fiktion hat das Interesse der Verleger und Leser bereits außerhalb von Québec geweckt. Der französische Verlag Phébus brachte die drei Bände 2013 sowie im Januar und August 2014 heraus. „Es ist die fiktive Figur des Gabriel Rivages“, leitete Éric Plamondon seine Zusammenfassung ein, „die die drei Romane durchschreitet. Zu Beginn des ersten Buches wird Gabriel Rivages 40 Jahre alt und er beginnt sich zu fragen, was ein gelungenes oder gescheitertes Leben ausmacht. Um eine Antwort zu finden, blickt er auf das Leben von drei Menschen des 20. Jahrhunderts: Johnny Weissmüller in Hongrie-Hollywood Express, Richard Brautigan in Mayonnaise und Steve Jobs in Pomme S.“ Die drei Männer verkörpern drei wichtige Momente der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, erklärte er mir. So stehe Weissmüller für das goldene Zeitalter von Hollywood in den 1930er Jahren, Brautigan für die Gegenkultur der 1960er Jahre und Steve Jobs für das Silicon Valley. Alle drei Leben spielen sich an der Westküste Amerikas ab, was laut dem Autor daher rührt, dass die Grenze während der Durchquerung Amerikas immer weiter verschoben wurde, bis der Pazifik und damit die physische Grenze erreicht wurde. Dies hatte zur Folge, dass neue Grenzen geschaffen wurden, die fingiert waren. „Die neu erfundenen Grenzen finden meiner Meinung nach in diesen drei Momenten statt: im Kino, in der Gegenkultur und im persönlichen Computer“, resümiert Éric Plamondon und setzt fort: „Während Rivages die drei Schicksale genauestens betrachtet, indem er die Welt betrachtet, die diese drei Menschen umgibt, lernt er die drei Männer kennen und darüber hinaus entdeckt er die Geschichte Amerikas. Er erkennt, dass es letztendlich darauf ankommt, wie eine Geschichte erzählt wird.

Wie bei Samuel Archibald hat die Novela, die Éric Plamondon für die Jubiläumsreihe Nova geschrieben hat, zu einer Idee für ein neues Projekt geführt. Für das Schreiben von Ristigouche hat er mit Recherchen begonnen, die ihn zur Schlacht von Ristigouche von 1860 geführt haben. Diese Recherchen haben seine Neugier geweckt und er suchte nach weiteren Informationen über den Ort: „Ich fand heraus, dass 1981 ein weiterer Kampf von Ristigouche stattgefunden hat. Dieses Mal ging es um den Lachs. Die Québecer Regierung hatte den Micmac verboten, Lachs zu fischen und hatte Polizisten geschickt. Édith Butler sang mit den Worten von Éric Plamondon ein Lied, das „Escarmouche à Ristigouche“ heißt. Das wird in etwa die Grundlage für meinen nächsten Roman sein“ – einem zukünftigen Roman, bei dem sein Autor allerdings noch ganz am Anfang steht.
Auch Éric Plamondon nannte mir seine aktuellen Lektüren, darunter eine von seinem Flug von Bordeaux nach Montréal, wo er derzeit lebt: Chercher Sam von Sophie Bienvenu. Bereits ihren ersten Roman Et au pire on se mariera, der in Frankreich bei Notabilia erschienen ist, mochte er sehr. Ansonsten gestand er mir, dass er ein großer Fan der Bücher seines Hausverlages ist.

Nach all diesen männlichen Stimmen, die ich während des Salon du livre gehört habe, traf ich auf die junge Dichterin und Autorin Maude Veilleux am Stand von Hamac. Bei Hamac erschien in diesem Jahr ihr Debütroman Le vertige des insectes. „In dem Roman“, erklärte sie mir, „wird die Geschichte von Mathilde erzählt, die infolge des Ablebens ihrer Großmutter und der Abreise ihrer Freundin in eine Art Psychose verfällt. In ihrer Vergangenheit hat sie einige Dramen durchgemacht, was dazu führte, dass ihr der Tod nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie gerät in eine Art Spirale, die sie nach unten zieht. Schließlich verfolgt sie den Gedanken, ein Kind zu bekommen, wofür sie zu allem bereit ist.“
Maude Veuilleux schreibt aktuell an einem neuen Roman, der, wie sie verrät, so ganz anders sein wird als Le vertige des insectes und an neuen Gedichten. Sie outete sich auch als großer Fan der Québecer Dichtung. So stehen auf ihrer Liste der liebsten Autoren und Werke der Québecer Literatur der Dichter Patrice Desbiens und Fréderic Dumont sowie La vie littéraire von Mathieu Arsenault und Les plus belles filles lisent du Asimov von Simon Charles.

Noch zwei Tage hatten die Bibliophilen und Leseratten die Gelegenheit auf dem Salon du livre in Montréal vorbei zu schauen. Ich ließ mich nicht zweimal bitten und schaute bei Leméac vorbei. Weil auch dort so viele Bücher nach Aufmerksamkeit verlangten, lauschte ich den Empfehlungen von Marie-Claude Fortin, die Verlegerin bei Leméac ist.
Kurz fasste sie mir die aktuellen Bücher Le vent dans le dos von Natalie Jean, Azami von Aki Shimazaki und Traces von Anna Raymonde Gazaille zusammen: „Le vent dans le dos ist ein Sammelband, in dem die Geschichten in der Stadt Québec und auf dem Land spielen. Natalie Jean schreibt diese in einem außergewöhnlichen, sehr farbenfrohen und lebhaften Stil, so dass man beim Lesen den Eindruck hat, man kenne die Figuren. Der Band ist wunderbar geschrieben.
Aki Shimazaki hat bereits mehrere Bücher geschrieben. Sie hat einen zarten Schreibstil, bei dem vieles im Nichtgesagten liegt. In Azami erzählt sie von einem Anfang 30-Jährigem, der auf einen alten Kameraden trifft. Dieser lädt ihn überraschenderweise in einen gehobenen Club ein, wo er eine Frau wiedersieht, in die er als Junge verliebt war.
Anna Raymonde Gazaille hat mit allem anderen aufgehört, um sich dem Schreiben von Kriminalromanen zu widmen. Sie hat ein Team mit Ermittlern in Montréal entworfen unter der Leitung von Paul Morel. Ich bin beeindruckt, wie sie in ihrem Krimis Montréal in Szene setzt. In Traces führen die Ermittlungen in die Welt von Onlinepartnerbörsen, wo unendlich viele Verbrechen mit unendlich vielen Verdächtigen stattfinden. Es ist sehr gut und sehr spannend geschrieben.“
Einen Titel, den sie nicht empfohlen hat, deren Autorin ich jedoch getroffen habe, ist Small talk. Carole Fréchette ist Theaterautorin, deren Stücke in mehrere Sprachen übersetzt sind. Ein erstes Theaterstück erschien 1989, weitere folgten, die auch in andere Sprachen übersetzt wurden. Small talk ist der Titel ihres aktuellen Stücks, das bei Leméac in diesem Jahr erschienen ist und im November 2014 mit dem Prix du Gouverneur général ausgezeichnet wurde. Sie selbst fasst ihr Stück wie folgt zusammen: „Das Stück ist um die zentrale Figur namens Justine konstruiert. Sie ist eine junge normal erscheinende Frau, die von einem seltsamen Problem belastet wird, das ihr Leben vergiftet: sie weißt nicht, wie man Gespräche führt. Sie kann es nicht auf eine natürliche Art und Weise beginnen, beleben und beenden. Sie kann keine einfachen Fragen stellen und nicht von allem und nichts reden, wie man sagt. Das, was die Engländer small talk nennen. Dennoch hat sie Dinge zu sagen. Am Abend, wenn sie allein in ihrem Wohnzimmer ist, lässt sie ihre Gedanken über das Leben in langen Selbstgesprächen hervorsprudeln, die sie befreien und gleichzeitig einen bitteren Geschmack zurücklassen. Sie hat keine Ahnung, woher dieses Übel kommt aber sie weiß, dass sie diese Einsamkeit, in das es sie einschließt, nicht mehr lange aushält. Gleichzeitig befindet sich Timothée, ein junger Mann, auf seinem eigenen verzweifelten Weg. Letztendlich kreuzen sich ihre Wege und die Art des Gesprächs nimmt eine ganz andere Bedeutung an.“
Es ist immer spannend mit einem Autor über sein Werk zu reden. Genauso spannend ist es, wenn sie Ideen für kommende Projekte mit einem teilen. Carole Fréchette arbeitet an einem, das auf zwei Dingen gründet, die sie miteinander verbinden möchte, deren Gelingen sie jedoch noch nicht einschätzen kann. Die zwei Dinge sind eine Reise nach Burkina Faso, zu der sie erläutert: „Vor einer Weile reiste ich für eine kurze Zeit nach Burkina Faso. Es war mein erster Kontakt mit Afrika. Ich kehrte mit einem Wort zurück, nassara (so werden die Weißen von den Menschen aus Burkina Faso bezeichnet), und mit einer Ausgangssituation: eine Frau aus dem Okzident, die an einem Kolloquium in Ouagadougou teilnimmt, gelingt es nicht, sich auf die Vorträge zu konzentrieren, weil ihr die frohen Schreie der Straßenkinder, die auf sie zugelaufen kommen, während sie nassara riefen, nicht aus dem Kopf gehen.“ Und einen Gegenstand: eine Kalachnikov, zu der sie sagt: „Ich möchte wegen dieses berühmten Sturmgewehrs, das der gleichnamige Soldat 1947 entwickelt hat, nicht über Krieg und Terrorismus reden, sondern über die Waffe selbst: ihr Gewicht, ihre Funktionsweise, die Töne, die sie erzeugt, das, was es bedeutet, sie in den Händen zu halten, sie in den Himmel zu richten als Zeichen des Sieges, in die Luft zu schießen, um zu sagen, „ich bin da, ich bin mächtig, ich bin unverwundbar“ und das, was es bedeutet, auf jemanden zu schießen, ihn zu durchlöchern.“ Wie bei allen angedachten Projekten der Autoren, die ich auf dem Salon du livre in Montréal getroffen habe, bin ich neugierig und gespannt, wann und wie sie mir demnächst begegnen werden. Um die Wartezeit zu verkürzen, bleiben mir u.a. die Empfehlungen und Lieblingsbücher der Autorinnen und Autoren als bevorstehende Lektüre. Auf der Liste von Carole Fréchette befinden sich zum einen Le feu de mon père von Michael Delisle und zum anderen der Band 6 lettres, abécédaire des mots en perte de sens, zu dem sie mir mitteilte: „Der Bühnenautor Olivier Choinière wählte 26 Begriffe, einen für jeden Buchstaben des Alphabets, die für ihn abgenutzt und sinnentleert sind. Er wies diese Wörter 26 Theaterautoren zu und bat sie in einem kurzen Text in Form eines Briefes adressiert an eine Person der eigenen Wahl, diese Begriffe neu zu definieren. Es sind schöne, liebevolle, lustige, empörte Schriften. Es ist eine schöne Art und Weise, den Pulsschlag des aktuellen Québecs zu messen.“

Am frühen Nachmittag des 24. November 2014 war dann die Bücherschau vorbei und der Salon du livre schloss seine Türen. Ich ging mit einigen letzten Buchempfehlung von Maxime Raymond, Verleger bei Ta Mère, nach Hause: „Die erste Neuheit bei uns ist Sports et divertissements von Jean-Philippe Baril Guérard. Es ist ein Roman über drei Freunde, die zu viel Zeit und zu viel Geld haben, das sie für Sport, harte Drogen und Partys ausgeben ohne sich Fragen zu stellen und sie werden es weiterhin tun. Das zweite Buch, das wir herausgebracht haben, ist Igor Grabonstine et le Shining von Mathieu Handfield, der einen Schauspieler entworfen hat, der den Dreh vermasselt, weil er auf einen kleinen, sechsjährigen Jungen eifersüchtig wird, der ein besserer Schauspieler ist als er. Das ganze gerät dann außer sich. Zu guter Letzt ist da noch Youtube théorie von Antonio Dominguez Leiva. Es ist ein Essay über Youtube und all das, was es umgibt. Er beobachtet gleichzeitig Youtube als Repräsentant unserer Epoche und unsere Epoche als Erschaffer von Youtube.“ Dieser Essay ist in der neuen Reihe namens Pop-en-stock erschienen, die der Verlag lanciert hat, um Essays über die allgemeine Popkultur herauszugeben.