Am Stand von La Peuplade traf ich Chantal Neveu und Dimitri Nasrallah, der kurz zuvor mit Deni Ellis Béchard auf der Agora-Bühne über seinen Roman Niko gesprochen hat. Der Verlag La Peuplade, den es seit 2006 gibt, brachte ihn in diesem Jahr in der französischer Übersetzung von Daniel Grenier heraus. Mit ihm führte ich eines von mehreren kurzen Interviews inmitten des alltäglichen Bücherschaugewimmels.
Für den Autor war es das erste Mal, dass er auf einer Bühne der Montréaler Buchmesse sein Buch vorstellte und das auf Französisch, was für ihn eine Herausforderung war, denn sein Buch hat er auf Englisch geschrieben. Es wurde 2011 beim Montréaler Verlag Véhicule Press verlegt. „[Im Roman] geht es um einen jungen Mann namens Niko, der während des Libanesischen Bürgerkriegs geboren wurde“, erklärte Dimitri Nasrallah. „[Das Buch erzählt,] wie er und sein Vater nach dem Tod der Mutter das Land verlassen haben und sich in der Welt verloren fühlen. Es geht um ihre Erfahrungen, darum, wie sie mit der Vergangenheit umgehen und einen Weg suchen, um wieder nach Vorne zu schauen. Sie tun das auf sehr unterschiedliche Arten. Es geht letztlich auch darum, wie sich Familien in Zeiten von Konflikten trennen und wieder zueinanderfinden.“ In seiner Freizeit ist der Autor als DJ unterwegs. Vielleicht findet die Musik irgendwann Eingang in eines seiner Bücher. Aber erst einmal ist er als Übersetzer mit Éric Plamondon‘s Trilogie 1984 beschäftigt. Im Herbst erschien der erste Teil Hongrie-Hollywood Express, ebenfalls bei Véhicule Press, wo er als Herausgeber auch für die Reihe Esplanade Books verantwortlich ist. Teil 2 Mayonnaise und Teil 3 Apple S werden folgen sowie Nirliit von Juliana Léveillé-Trudel und Soleil von David Bouchet, beides Titel, die bei La Peuplade erschienen sind und die für das nächste Jahr im Programm von Esplanade Books angekündigt sind. Und auch an einem neuem Roman schreibt Nasrallah. „Im Moment lautet dessen Titel Bleed dynasty und er sollte im Winter 2018 erscheinen“, kündigte er an.
Ein paar Tage vor dem Start des Salon du livre konnte ich auf dem diesjährigen Expozine einen Blick in die Bücher von Véhicule Press werfen. Neben Vécihule Press waren auch Pow Pow, Les Éditions de Ta Mère und Comme des géants vor Ort sowie weitere Verlage aus Montréal, Illustratoren und Künstler. Einige von ihnen sah ich auf dem Salon du livre wieder.
Wenn man länger auf der Buchmesse unterwegs ist, fühlt man sich irgendwann wie in einer Blase. Man kann stundenlang durch die Gänge laufen, für eine Unterschrift seines favorisierten Autors anstehen oder ihm in einer der vielen Gesprächsrunden lauschen und mehr über seinen Schaffensprozess und sein Werk erfahren. Manchmal, wenn das Timing stimmt, kommt man mit einem Autor auch ins Gespräch. Mir ging das z.B. mit Simon Roy am Stand von Boréal so. Der Autor von Ma vie rouge Kubrick stellte seinen nächsten Roman, Owen Hopkins, Esquire, vor. In seinem neuesten Buch geht es um einen Lügner, einem Erfinder von Geschichten, zu dem er von seinem Vater inspiriert wurde, wie er mir verriet: „Ich war nie in der Lage, zu verstehen, was stimmte und was unwahr war.“ Die Hauptfigur ist Jarvis Hopkins. Sein Vater Owen war Brite, der nach Québec ausgewandert ist. „Er mochte sehr die französische Sprache und wollte sein Leben von Neuem anfangen, weswegen er fortging“, erklärte der Autor. Nachdem sich eine Tragödie ereignet hat, kehrt Owen nach England zurück und lässt Frau und Kinder zurück. Als er nach vielen Jahren ohne Kontakt an Lungenkrebs tödlich erkrankt, reist sein Sohn zu ihm und versucht das Geschehene zu verstehen. So viel gab Simon Roy zum Inhalt preis. Was die Form angeht, sagte er: „Es ähnelt sehr Ma vie rouge Kubrick. Es sind kurze Kapitel, einzelne Fragmente. Es hat etwas von einem Labyrinth: Auf den ersten Blick wirkt es unübersichtlich, aber die einzelnen Fragmente dienen dazu, Aufschluss über das Hauptmotiv zu geben.“
Während er gerade erfahren hat, dass Ma vie rouge Kubrick demnächst in englischer und spanischer Übersetzung erscheint, hofft er, dass auch ein deutscher Verlag an seinen Büchern, die zwischen Roman und Essay schwanken, interessiert ist. Überraschenderweise beendeten wir unser Gespräch dann auch auf Deutsch und er nannte mir nach kurzer Überlegung sein Lieblingswort in meiner Muttersprache: „Entschuldigung, wegen des Klangs“.
Hätte ich gewusst, dass mich noch mehr Kreativschaffende auf der Buchmesse mit ihren Deutschkenntnissen überraschen, hätte ich eine Umfrage mit ihren Lieblingsworten starten können. Es war Valérie Boivin, die mich diesbezüglich erneut überraschte. Sie ist Illustratorin und hat zusammen mit François Blais das Buch 752 lapins bei Les 400 coups veröffentlicht. Als begeisterte Leserin von François Blais‘ Romanen, die bei L‘Instant Même erschienen sind – der Verlag feiert in diesem Jahr übrigens sein 30-jähriges Bestehen – war ich neugierig darauf, den Autor am Stand von Les 400 coups während seiner Signierstunde zu treffen. Das Buch hatte mir der Verleger Simon De Jocas auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober empfohlen und ich fand es toll. Wie das Buch entstanden ist, verriet Valérie Boivin, die gesprächsfreudiger war als der doch eher zurückhaltende Autor. Sie erzählte, wie es zu dem gemeinsamen Buchprojekt gekommen war: „Ich habe seinen Roman Sam gelesen und fand ihn so toll, dass ich traurig war, als er vorbei war. Also schrieb ich François und fragte ihn, ob er einen Text für Kinder schreiben würde.“ Sie fand Gefallen am sarkastischen Stil des Autors, den sie für das Genre der Kinderliteratur geeignet fand. Es dauerte nicht lang und die Geschichte à la François Blais war aufs Papier gebracht. Dass Hasen darin eine Rolle spielen, liegt aber nicht zuletzt auch daran, dass die Illustratorin ein Faible für dieses Tier hat. Als ihr der Text des Autors vorlag, hatte sie sofort Bilder im Kopf, erklärte sie. Erst zeichnete sie die einzelnen Teile auf dem Blatt, fügte diese zusammen und kolorierte das Ganze anschließend am PC. Und die Zusammenarbeit scheint sich fortzusetzen, denn Valérie Boivin verriet mir, dass sie bereits an einem zweiten Buch gearbeitet haben, das im nächsten Jahr erscheinen wird.
Hatte ich den diesjährigen Salon du livre in der Maison des libraires begonnen, führte es mich nach vielen Eindrücken und interessanten Gesprächen auch wieder dorthin. Denn am Freitagabend standen dort Dichtung und Musik auf dem Programm. Abwechselnd gab es Musik von Sébastien Lafleur und Philémon Cimon sowie Gedichte u.a. von Roxane Desjardins, François Guerrette, Nicole Brossard und Kim Doré.
Im Veranstaltungsprogramm konnte man auch noch mehr an musikalischen Hintergründen oder Kontexten erkennen. Ich habe auf der Buchmesse z.B. auch Stéphanie Lapointe bei ihrer Signierstunde am Stand von XYZ gesehen oder Stéphanie Boulay getroffen. Bekannt aus der Musikgruppe Les sœurs Boulay brachte sie nun auch ihren Debütroman À l’abri des hommes et des choses in einer neuen Reihe beim Verlag Québec Amérique heraus, die von Stéphane Dompierre herausgegeben wird. Bevor sie eine Signierstunde am Verlagsstand gab, gab sie auf der Confort TD-Bühne in einem Gespräch mit Gilles Archambault einen Einblick in ihr Buch. Es sei keine Weiterführung ihrer Musik, die sie zusammen mit ihrer Schwester macht, erklärte sie, sondern ein eigenständiges Projekt. Ich bin gespannt auf die Lektüre.
Auf dem Salon du livre in Montréal gab es auch die Gelegenheit, einen Autor zu treffen, dessen Bücher bereits auf Deutsch erschienen sind. Einer von ihnen war der Erfolgsautor Yann Martel, der im Mai diesen Jahres auf Lesereise in Deutschland war. Ich nutzte meine Chance und fragte ihn zwischen zwei Autogrammen, welchen Eindruck er davon behalten hat. Er antwortete, dass die Deutschen viel lesen und seit er mit seinen Büchern auch in der deutschen Sprache zu lesen ist, verlaufen seine Lesereisen sehr gut. Die Leser kämen zu ihm und wollten mit ihm reden, auch wenn er kein Deutsch kann. Sein neuester Roman ist Les hautes montagnes du Portugal, erschienen bei XYZ. In der deutschen Ausgabe lautet der Titel Die hohen Berge Portugals (S. Fischer). „Der Roman spielt zu drei unterschiedlichen Zeiten – im Jahr 1904, im Jahr 1938 und Anfang der 1980er Jahre – in einem abgelegenen Teil Portugals. Die drei Erzählstränge verbindet ein roter Faden, dieselbe Thematik: das Leiden“, fasste der Autor zusammen und fuhr fort: „Ein weiteres Mal habe ich Tiere als Vehikel für Symbole benutzt. Dieses Mal einen Schimpansen und ein Nashorn. Ich habe versucht den Glauben und die Lektüre eines Romans einander anzunähern. Beide fordern ein Außerkraftsetzen der Unglaubwürdigkeit ein, damit sie funktionieren. Ein guter Roman setzt den Unglaube außer Kraft sowie auch eine Religion, die funktioniert. Beide sind demnach ein Sprung, den wir in der Phantasie machen. Aus diesem Grund hat sich die Kunst auch immer bei der Religion bedient.“
Aber auch Émily St.John Mandel habe ich in Montréal getroffen. Ich hatte kurz zuvor ihren beeindruckenden und umfassenden Roman Das Licht der letzten Tage (Piper) gelesen und sprach mit ihr über diesen Roman, der im Sommer auch auf Französisch in Québec bei Alto und bei Rivages in Frankreich erschienen war. „Zuerst kam er auf Englisch im September 2014 heraus und seitdem folgen Veröffentlichungen in weiteren Sprachen“, erzählte mir die Autorin, die in New York lebt. „Deutschland war eine der ersten fremdsprachigen Ausgaben“, fügte sie hinzu, „jetzt sind es um die 31 Sprachen und das ist wirklich außergewöhnlich.“ Ich war neugierig, wie sie, die zuvor bereits drei Bücher geschrieben hatte, auf die Geschichte für das Buch gekommen war. Émily St-John Mandel nannte dafür mehrere Gründe: Zum einen wollte sie sich von ihren vorherigen Büchern abheben, die oft als Krimis wahrgenommen wurden und sie wollte nicht nur diesem Genre zugeordnet werden. Zum anderen interessiert sie sich für Film und Theater: „Ich wollte darüber schreiben, was es heißt, sein Leben der Kunst zu widmen, mit all den Opfern und Freuden. Ich dachte an einen Roman über das Leben einer reisenden Theatercompany. Seit längerem wollte ich auch schon über die Technologien schreiben, die uns umgeben. Wir leben mit unseren Handys und Flugzeugen in einer außergewöhnlichen Welt. Ich hielt es für interessant, über diese technischen Errungenschaften zu schreiben und darüber, wie die moderne Welt wäre, wenn es sie nicht gäbe. Ich behielt die ursprüngliche Idee der Theatertruppe, ließ sie aber in einer postapokalyptischen Atmosphäre reisen.“
Neben all den Büchern, deren Autoren gefeiert werden, hatten auch einige Verlage Grund zum Feiern hinsichtlich ihrer runden Jubiläen. 40-jähriges Jubiläum feierte z.B. die Verlagsgruppe Librex. Auf der Bühne des Grand Place ließ Johanne Guay, die seit gut 25 Jahren dabei ist, in die Geschichte der Gruppe blicken, während im Hintergrund Cover der zahlreichen veröffentlichten Bücher in einer Diashow gezeigt wurden. Mit auf der Bühne saß auch die Autorin Kim Thúy, deren neuester Roman Vi in diesem Jahr veröffentlicht wurde. Ein Autor, mit dem sie zusammen ein Lied aufgenommen hat, ist David Goudreault, einer der Ehrengäste des Salon du livre in diesem Jahr. Von ihm sind bereits die ersten beiden Teile seiner Trilogie La bête … bei Stanké erschienen, einem Imprint der Verlagsgruppe Librex. Er war fast an jedem Tag am Verlagsstand, um seine Bücher zu signieren und nahm an mehreren Gesprächsrunden teil, z.B. an der auf dem Grande Place zusammen mit Biz, Tristan Malavoy und Anaïs Barbeau-Lavalette. Sie sind Autoren und Filmemacher, Musiker oder Dichter und verrieten ihre Lesegewohnheiten, gewährten einen Einblick in ihre Arbeitsprozesse und verrieten erste Details ihrer kommenden Buchprojekte.
Während der Salon du livre so langsam zu Ende ging, schaute ich auf Anraten von Mathieu Leroux, den ich 2014 während seines Aufenthalts in Berlin kennengelernt hatte, noch bei La Mèche vorbei. Dort ist von ihm das Buch Quelque chose en moi choisit le coup de poing erschienen. Verleger bei La Mèche ist Pierre-Luc Landry und er stellte mir die aktuellen Bücher vor, die bereits über die Grenzen von Québec hinaus wirken, z.B. Le chasseur inconnu von Jean-Michel Fortier. Der Roman ist bereits mit dem Titel The unknown huntsman bei QC Fiction erschienen. Und während ich mich mit Pierre-Luc Landry unterhielt, erfuhr ich noch, dass quasi zur selben Zeit an einer deutschen Universität ein Vortrag von der Übersetzerin Madeleine Stratford gehalten wurde zum Thema “Magischer Realismus und Mehrsprachigkeit im Werk Pierre-Luc Landry‘s”. Sein zweiter Roman, Les corps extraterrestres (Druide, 2015), wird im Sommer 2017 dann auch in der englischen Übersetzung von Madeleine Stratford und Arielle Aaronson bei QC Fiction veröffentlicht.