In der Mitte des Stands wurde der Square Saint-Louis nachgebildet. Der Platz, der viele Montréaler zum Innehalten unter den vielen Bäumen einlädt, ist von viktorianischen Gebäuden geziert. In der Umgebung des Parks lebten zahlreiche Künstler und Dichter wie Louis Fréchette und Émile Nelligan oder Gaston Miron und Dany Laferrière. Sie erhielten in der Ausstellung ihren Platz: Auf leichten Vorhängen, auf denen dezent Brunnen, Bäume, Statuen und Häuser des Platzes aufgezeichnet waren, fanden sich Informationen zu ihnen sowie einige ihrer Gedichte. Auf robusten Hockern konnte man innehalten, um ein Video anzuschauen, dessen Thema die Dichtung Québecs mit Beiträgen von Natasha Kanapé Fontaine, David Goudreault und Yann Perreau war.
Vor Ort haben dieses Genre Rodney Saint-Éloi (Passion Haïti, Hamac), Josephine Bacon (Un thé dans la toundra – Nipishapui nete mushuat, Mémoire d‘encrier) und Charles Sagalane (73 armoire aux costumes, La Peuplade) vertreten.
Über Feminismus und Genderrollen tauschten sich Fanny Britt (Les maisons, Le Cheval d‘août), Mylène Bouchard und Mélissa Verreault aus. Louis-Hamelin stellte im Gespräch mit Jean-François Nadeau seinen aktuellen Roman Autour d‘Eva (Boréal) vor. Michel Vézina (Pépins de réalités, Tête première), Nicolas Dickner (Six degrés de liberté, Alto) und Serge Lamothe (Mektoub, Alto) unterhielten sich über das Verfassen von Romanen, über die Reaktionen und den Platz von ihren Lesern und über die Definition von Literatur. Die Leiterin des Festival international de la littérature Michelle Corbeil begrüßte Stanley Péan und Max Lob. Die Autoren aus Montréal und Genf hatten sich über ihre Städte ausgetauscht. Die Texte sind mittlerweile auf der Website des Festivals veröffentlicht.
Und auch der Poetryslamer und Autor David Goudreault hatte seinen Auftritt auf der Buchmesse. Im Gespräch mit Billy Robinson ging es um seine Trilogie, die nach La bête à sa mère und La bête dans le cage in diesem Jahr mit Abattre la bête (Stanké) abgeschlossen wurde. Im Anschluss gab er noch eine Kostprobe von seinen Fähigkeiten als Poetryslamer in Form einer kurzen Einleitung in die Québecer Dichtung mit Texten wie „Appelle à la poésie“ und „J‘ai mal à mon pays“ von Gérald Godin sowie „La mort de l‘ours“ von Félix Leclerc und stellte sein Improvisationstalent unter Beweis, in dem er aus sechs Begriffen aus dem Publikum in kürzester Zeit ein Gedicht entworfen hatte.
Neben Billy Robinson, der als Moderator auch genug Freiraum in seinen Gesprächen lässt, führte auch sein Kollege Jérémy Laniel einige Gesprächsrunden. „Gesprächsrunden zu moderieren ist immer interessant. Man spricht über Bücher und Erzählbände und zugleich auch über die Literatur an sich“, resümierte er. Beide Moderatoren entließen ihre Gesprächsteilnehmer oft mit einer Leseempfehlung. So fand sich der aufmerksame Zuhörer am Ende mit einer Auflistung von Titeln wie L‘odeur du café von Dany Laferrière (Les Éditions de la Bagnole), Soleil von David Bouchet (La Peuplade), La bête à sa mère von David Goudreault (Stanké), Soigner, aimer von Ouanessa Younsi (Mémoire d‘encrier), Sœurs volées von Emmanuelle Walter (Lux éditeur), Les filles en série von Martine Delvaux (Remue-ménage) und VVV von Daniel Canty und Patrick Beaulieu (Du passage) wieder.
Eine ähnliche Vielfalt an Autoren präsentierte auch Michel Vézina an einem von fünf Messetagen.
Als Repräsentant seiner fahrbaren Buchhandlung Le buvard, mit der er vor Kurzem auch erfolgreich in Frankreich unterwegs gewesen ist, lud er nacheinander Autoren wie Joséphine Bacon, Mylène Bouchard, Fanny Britt und Serge Lamothe in sein imaginäres Kabarett „buvardesque“ ein, um eine Kostprobe aus ihren Büchern zu geben. Wem das zu schnell gegangen war, der konnte die vorgestellten Bücher am Québec-Stand noch einmal durchblättern oder sich, wenn er immer noch unentschlossen war, von einem der anwesenden Buchhändler aus Québec beraten lassen.
Beim gemütlichen Schlendern über das restliche Messegelände konnte man auf den imposanten Büchertischen auch immer mal wieder Bücher von Autoren aus Québec entdecken, ob von Nikolas Dickner, Guy Delisle, Marie-Renée Lavoie oder Dany Laferrière, sie waren nicht nur am Stand des Ehrengasts zu finden.
Nicolas Dickner nahm zusammen mit dem Schweizer Autor Jérémie Gindre auf der in einem großen Zelt versteckten Bühne namens Le Cercle Platz. Beide Autoren haben ihre Figuren auf Reisen geschickt. In Dickners Six degrés de liberté (Alto), der demnächst auch in deutscher Übersetzung erscheint, unterläuft seine Hauptfigur das System und reist in einem Container von Québec nach Stockholm. Um die Bühne herum präsentierten kleinere Verlage ihre Programme und hinter dem Zelt konnte der Besucher sich in seinen Siebdruckfähigkeiten üben.
Völlig unerwartet hat mich eine unscheinbare Bühne gleich neben dem Stand des Ehrengasts überrascht. Dort wurde gekocht und gebacken, während über Bücher gesprochen wurde. In der “cuisine des livres” haben u.a. Juliana Léveillé-Trudel (Nirliit, La Peuplade), Charles Sagalane und Michel Vézina ihre Rezepte mit dem Publikum geteilt. Juliana Léveillé-Trudel hat ein Brot, das Bannique (dt. Bannockbrot) genannt wird, gebacken und während der Zubereitung mit den Vorurteilen gegenüber der Inuit aufgeräumt. Der Dichter Charles Sagalane aus Lac-Saint-Jean, der im November 2016 für seine poetische Reihe Abrégés et mélanges mit dem Prix de poésie Radio-Canada ausgezeichnet worden war, hat ein Karamell aus Craft Bier und Ahornsirup zubereitet. Michel Vézina hat unter dem Thema „Bio und lokal“ eine Suppe gekocht, nebenbei kleine Kochtipps gegeben und Einblicke in seine interessanten Projekte gewährt. Nach einer guten Stunde war die Suppe zum Servieren bereit. Sie war vielseitig im Geschmack und zum Ende hin überraschend würzig.
Wem das vielfältige Programm auf der Messe nicht ausreichend war, der hatte auch in der Stadt verteilt Gelegenheit, Veranstaltungen mit Autoren aus Québec zu besuchen: Der Verlag La Peuplade war mit fünf Autoren am Donnerstagabend in der Buchhandlung Nouvelles Pages zu Gast und die Autoren France Martineau und Jean Bello von Les Éditions Sémaphore lasen Auszüge aus ihren Romanen am Samstagvormittag im Bains-des-Pâquis, der Imbisstube der städtischen Badeanstalt, in der man traditionelles Fondue bekommt.
Nach fünf Tagen auf dem Salon du livre et de la presse in Genf, in denen das Buch mal wieder bewiesen hat, dass es nicht verschwinden wird, schlenderten die letzten Besucher durch die Gänge und die Autoren und Verleger waren in Aufbruchstimmung. In diesen ruhigeren Minuten nutzte ich die Gelegenheit, um die Buchhändler nach ihren Eindrücken zu fragen: Billy Robinson, Jérémy Laniel, René Paquet und Morgane Marvier. Sie alle sind Buchhändler in der frankokanadischen Provinz und waren in den letzten Tagen Ansprechpartner für die Besucher des Québec-Stands.
„Ich hatte den Eindruck, dass die Leute lieber mit einem Roman aus Québec nach Hause gegangen sind, dessen Handlung woanders spielt. Sie interessierten sich für die Sprachfarbe“, teilte Billy Robinson von der Buchhandlung Verdun seine Beobachtung des Kaufverhaltens der Messebesucher mit. „Ich war angenehm überrascht, dass die Trilogie von David Goudreault sich sehr gut verkauft hat. Die Teile sind pointiert, in einer lebhaften Sprache geschrieben und enthalten viele Referenzen auf Québec. Das wurde nicht als Hindernis wahrgenommen und wir haben fast alle seine Bücher verkauft.“ Auch Jérémy Laniel bestätigte diesen Eindruck vom Publikum der Buchmesse, das mit viel Neugier und einer Entdeckerlust an den Stand gekommen war. Er habe ihnen die unterschiedlichsten Bücher vorgestellt, angefangen bei einem Klassiker von Monique Proulx über eine neue Stimme wie die von Sophie Bienvenu bis hin zu etwas ungewöhnlicheren Büchern wie Synpases von Simon Brousseau (Le Cheval d’août). Und manchmal landeten all seine disparaten Empfehlungen in der Einkaufstüte. Morgane Mavier, die zum ersten Mal auf der Buchmesse in Genf war, hat festgestellt, dass die Leser von Krimis oder historischen Romanen Autoren wie Patrick Sénécal kannten und gezielt nach deren neuen Büchern gesucht haben. „Das Genfer und generell das europäische Publikum ist unserer Literatur gegenüber sehr offen. Die Sichtbarkeit, die wir durch die Stellung als Ehrengast erhalten, hilft da natürlich und ich hoffe, dass das Interesse in den nächsten Jahren anhält“, resümierte Billy Robinson.
Mit einer Liste von aktuellen Empfehlungen der vier Buchhändler im Kopf schnappte ich meinen Koffer und schlenderte vom Palexpo zum nahe gelegenen Flughafen. Le poids de la neige von Christian Guay-Poliquin (La Peuplade) lautete der Tipp von René Paquin. Morgane Mavier, die ein Fan von Kriminalliteratur ist, empfahl L’heure sans ombre von Benoît Bouthillette (Druide). Billy Robinson nannte Je ne suis pas de ceux qui ont un grand génie von Sévryna Lupien (Stanké) und Jérémy Laniel empfahl Taqawan von Éric Plamondon (Le Quartanier). Und während eine Dame beim Security Check meinen Koffer prüfte, konnte ich gleich meine gewonnenen Eindrücke vom Salon du livre mit ihr teilen und später in der Luft, mit dem Blick auf die Stadt, die letzten Tage Revue passieren lassen.