Gastland Kanada: So präsentierte sich das Land zwischen 2019 und 2021 auf der Frankfurter Buchmesse

16. Oktober 2022 | Reportage

In wenigen Tagen startet wieder die Buchmesse in der Mainmetropole. Damit ist es ein Jahr her, dass sich Kanada dort als Ehrengast präsentiert hat. Zeit für mich, auf die letzten drei Jahre zurückzublicken.

2019 fand die Buchmesse zwischen dem 16. und 20. Oktober statt. An diesen fünf Tagen präsentierten sich über 7000 Ausstellende aus mehr als 100 Ländern, für mich besonders interessant: die deutschen, kanadischen und Québecer Verlage. Bei den deutschsprachigen Verlagen hielt ich nach aktuellen Übersetzungen kanadischer Titel Ausschau und wurde fündig: Mairisch präsentierte etwa das Bilderbuch Peter, Kater auf zwei Beinen von Nadine Robert und Jean Jullien, das der Verleger Daniel Beskos übersetzt hat; bei Wagenbach gab es den Roman All unsere Jahre von Kathy Page in der Übersetzung von Beatrice Faßbender; der Polarverlag präsentierte Im Käfig, ein Roman des Anglokanadiers Kevin Hardcastle, und der MONS Verlag hatte eine Legende der Plains Cree dabei, die Judith Silverstone aufgeschrieben hat. Und am Stand des Unionsverlags entdeckte ich das Buch Kanada fürs Handgepäck mit Kurzgeschichten von Margaret Atwood, Joseph Boyden, Alice Munro, Yves Thériault und weiteren.

Dass die Zahl der Neuerscheinungen aus Kanada in deutscher Übersetzung im kommenden Jahr um einiges höher ausfallen würde, ließ die Gastrolle des Landes auf der Buchmesse 2021 erwarten. Welche würden es wohl sein? Vielleicht lieferten die Regale der Gemeinschaftsstände der Verlegerverbände Kanadas und Québecs dazu Hinweise. Alto z.B. präsentierte den neuen Roman L’apparition du chevreuil von Élise Turcotte. Daneben zeigte der Verlag auch das Buch Les villes de papier von Dominique Fortier, samt englischer Übersetzung. Und da Alto auch regelmäßig Bücher von anglokanadischen Autorinnen und Autoren in Übersetzung verlegt, entdeckte ich auch Croc fendu von Tanya Tagaq. Im Regal von écosociété fiel mir die Graphic Novel Comment les paradis fiscaux ont ruiné mon petit-déjeuner von François Samson-Dunlop auf. Darin beschließt der Protagonist einen Konsumstopp bei den Firmen, die Steuerzahlungen umgehen, und zeigt, wie schwierig und vielleicht sogar unmöglich das ist. Bei Biblioasis entdeckte ich die Originalausgabe von Kevin Hardcastles Buch, das ich in der deutschen Ausgabe bereits gesehen hatte, sowie die englische Übersetzung von Le plongeur von Stéphane Larue. Und am Stand von Les Malins gab es einen weiteren Band von Fanny Cloutier, den der Loewe Verlag hierzulande verlegt. Bei Dundurn fiel mir die englische Übersetzung von J. D. Kurtness‘ Roman De vengeance, Of vengeance, ins Auge. Ihr neuer Roman Aquariums ist gerade bei L‘Instant Même erschienen.

Es gab aber nicht nur allerlei Bücher zu entdecken, sondern auch die Möglichkeit, diejenigen zu sehen, die sie geschrieben haben. Während der Buchmesse wurde den 300.000 Besucherinnen und Besuchern ein umfangreiches Programm geboten. Ich freute mich über die erste Literaturgala am Messesamstag, wo die preisgekrönten Schriftstellerinnen und Schriftsteller Maja Lunde, Elif Shafak, Colson Whitehead und Margaret Atwood im Gespräch mit Bärbel Schäfer und Thomas Böhm ihre neuen Bücher vorstellten. Vor allem die Kanadierin Margaret Atwood, die 2017 den Deutschen Friedenspreis erhalten hatte, hat mich mit ihren Worten und ihrer Schlagfertigkeit fasziniert.
Ein weiteres Highlight war die Pressekonferenz am Messedonnerstag mit Juergen Boos, Hélène Laurendeau, der stellvertretenden Ministerin des Ministerium für Kanadisches Kulturerbe, Caroline Fortin, der Vorsitzenden des Komitees Canada FBM2020, sowie kanadischen Schriftstellerinnen und Künstlern, die auf den kommenden Ehrengast einstimmten. Es war ein langer Weg bis hierin, der 1990 mit ersten Gesprächen zwischen dem Messedirektor und Kanada begann. An diesem Tag zeigten Vertreterinnen und Vertreter der kanadischen Literaturszene im Gespräch mit Nam Kiwanuka, was das Publikum der Messe im nächsten Jahr erwarten würde. Christian Guay-Poliquin und J. D. Kurtness aus Québec sowie Lisa Moore aus Neufundland präsentierten dabei nicht nur ihre Bücher, sondern hoben auch die Besonderheit der verschiedenen literarischen Traditionen und der Diversität Kanadas hervor. Immerhin umfasst die kanadische Verlagslandschaft um die 260 englischsprachige Verlage und über 100 französischsprachige Verlage, verteilt auf die zehn Provinzen und drei Territorien. Pro Jahr erscheinen rund 8500 Titel.
Noch vor der Pressekonferenz nutzte ich die Gelegenheit, mit einer der drei anwesenden Autor·innen zu sprechen. Ich traf J. D. Kurtness, Autorin der Romane De vengeance und Aquariums. Kurtness lebt in Montréal, sie ist Innu. Auf der Pressekonferenz vertritt sie die Diversität der neuen literarischen Stimmen Kanadas. Sie ist das erste Mal in Frankfurt, und das auch nur ziemlich kurz. Dennoch erinnert sie die geschäftig und organisiert wirkende Stadt an Montréal.
Ihren ersten Roman hatte mir 2017 ein befreundeter Übersetzer kurz nach einer seiner Montréalreisen empfohlen. Er handelt von einer jungen Frau, die als Kind versehentlich einen unausstehlichen Kameraden tötet und daran gefallen findet, und die mit den Jahren ihre Fähigkeiten verfeinert, detailliert unter dem Radar verschiedene Racheaktionen plant und diese auch umsetzt. Dabei ist ihr Blick auf die Menschen und die Welt von schwarzem Humor geprägt. Die Resonanz für diesen Roman war gut und er fand viele Leser. Dass Kurtness eines Tages veröffentlicht, lag zwar in der Luft, war ihrem Studium aber nicht abzulesen: „Ich habe schon immer gerne geschrieben. Und es ging mir auch schon immer leicht von der Hand. Ich habe gutes Feedback bekommen und wusste also, dass ich das Schreiben ganz gut beherrsche. Ich wollte aber Wissenschaftlerin werden.“ Sie studierte erst Mikrobiologie und wechselte nach einem Jahr zur französischen Literatur: „Ich betrachte mich als bequemen Menschen und dachte, da ich im Literaturstudium all die Klassiker lesen muss, ich so quasi über Osmose aufsaugen werde, was sie zu Werken gemacht hat, die Jahrzehnte, gar Jahrhunderte überdauern.“
Als sie schließlich die entscheidende Idee für ein Buch hatte, ging alles ganz schnell. De vengeance hat sich quasi wie von allein geschrieben. Ob das bei Aquariums auch so gewesen sei, fragte ich sie. Sie antwortete, dass dieser Roman mehr eine Art Zusammenführung mehrerer Ideen gewesen sei und dass die Geschichte daher weniger linear sei als in De vengeance. Es gibt auch mehrere Figuren als in ihrem Debüt. In Aquariums befindet sich eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf einem abgelegenen Forschungsschiff, während sich ein tödlicher Virus ausbreitet. „Ich habe mir vorgestellt, wie die Welt in fünf oder zehn Jahren sein könnte, und ich mag die Wissenschaft. Wissenschaftliche Inhalte könnten häufiger in der Québecer Literatur vorkommen. Bestimmte Probleme wie z.B. die Umwelt und der Klimawandel könnten öfter literarisch thematisiert werden, damit die Leute sie besser verstehen. Es gibt nichts besseres als eine gute Geschichte, um die Menschen zum Nachdenken zu bewegen.“ Ein weiteres Thema in ihrem zweiten Roman ist Herkunft: „Ich wollte zeigen, dass wir meistens nicht wirklich wissen, woher wir kommen und wen es vor uns gab. Oft wissen wir nicht, was vor zwei oder drei Generationen war, wissen nicht, was vor unseren Urgroßeltern war, haben keine Ahnung, wer die Leute vor ihnen gewesen sind und wie sie gelebt haben.“
Zum Schluss unseres Gesprächs wollte ich noch von ihr wissen, was das Publikum der Buchmesse ihrer Meinung nach im nächsten Jahr vom Ehrengast Kanada erwarten kann. Sie verwies auf das Motto „Singulier Pluriel“ und hob die unterschiedlichen Identitäten Kanadas hervor, die sich parallel entwickeln. Das ginge auch nicht anders, sagte sie, denn Kanada sei ein großes Land mit mehreren Gründervölkern: „Es gibt verschiedene Premières Nations, die eigene Sprachen und Kulturen haben. Dann kamen die Engländer und die Franzosen. Und auch heute kommen viele Leute nach Kanada. Es ist kein statisches Land. Kanada ist ein Einwandererland und das spiegelt sich in den vielen verschiedenen Stimmen, wobei es Themen gibt, die alle einen.“

Am letzten Tag der Buchmesse war es dann soweit: Kanada nahm auf der feierlichen Übergabe die GastRolle – ein speziell für die Frankfurter Buchmesse entworfenes Kunstobjekt – in Empfang.

2020 kam dann alles anders als gedacht. Nach einer kurzfristigen Absage der Leipziger Buchmesse konnte auch die Frankfurter Buchmesse im Oktober nicht wie gewohnt vor Ort stattfinden. Es musste umgeplant werden und so gab es die Frankfurter Buchmesse 2020 in einer Sonderedition, d.h. virtuell, und der Ehrengastauftritt Kanadas wurde auf 2021 verschoben.
Dennoch zeigte sich Kanada in dieser Ausgabe mit verschiedenen Beiträgen, z.B. von Emily St. John Mandel, Margarte Atwood, Jocelyne Saucier, Sidney Smith und Guillaume Perreault. Nachdem ich mich durch das umfangreiche digitale Programm geklickt hatte, habe ich Ausgewähltes am heimischen Computer verfolgt, und einiges davon für den Überblog des Goethe-Instituts Montréal festgehalten.

Unter dem Motto „Re:connect – Welcome back to Frankfurt“ fand die Buchmesse 2021 wieder in den Messehallen statt, mit immerhin 1700 Ausstellenden aus 74 Ländern. Vom 20. bis 24. Oktober 2021 gab es Begegnungen, Austausch und den Ehrengastauftritt Kanadas. Dieser begann mit der Eröffnung der Buchmesse u.a. mit Reden des Messedirektors Juergen Boos, der Generalgouverneurin von Kanada, Ihre Exzellenz Mary May Simon, sowie mit Beiträgen der zugeschalteten kanadischen Autorin Margaret Atwood, der zugeschalteten Innu-Dichterin Joséphine Bacon – die wegen einer technischen Störung ihre Rede leider nicht halten konnte – und der anwesenden Autorin und Performerin Vivek Shraya.
Die Literatur und Kultur des Ehrengasts konnte unter dem Motto „Singularity Plurality / Singulier Pluriel“ an den Gemeinschaftsständen des kanadischen und Québecer Verlegerverbands entdeckt werden, einzelne Titel an den jeweiligen deutschsprachigen Verlagsständen und im Pavillon der Messe, wo sich das Gastland präsentierte. Im Pavillon, der auch virtuell via canadafbm2021.com zu entdecken war, bildete geschwungenes, farbig in Szene gesetztes Holz Kanadas Landschaften ab. Der offiziellen Autorinnen- und Autorendelegation, von denen nur wenige angereist waren, konnte in Form von Hologrammen begegnet werden. Catherine Mavrikakis, Michel Jean, Dany Laferrière, Michael Crummy und Nancy Vo waren vor Ort, um ihre Bücher u.a. im Pavillon zu vorzustellen. Dany Laferrière, dessen Bücher auf Deutsch beim Verlag Das Wunderhorn erscheinen, unterhielt das Publikum im Gespräch mit seiner Übersetzerin Beate Thill und teilte seine Gedanken zur Komplexität der Menschen, zum Einsatz von Ironie und zur Literatur.

Mehr als 350 Bücher kanadischer Autorinnen und Autoren sind zwischen 2019 und 2022 in deutscher Übersetzung erschienen, etwa ein Drittel davon aus Québec, die Québec Édition auch an seinem Stand in Halle 4.1 D86 zeigte. Daneben wurden die neuesten Bücher der Québecer Verlage gezeigt, ein paar Vertreter·innen waren auch vor Ort, um sich persönlich mit Kolleginnen und Kollegen unter Einhaltung der vorgegebenen Hygienemaßnahmen auszutauschen.

Und auch in der Stadt präsentierte sich der Ehrengast, etwa mit Loop, eine retrofuturistische Installation mit animierten Illustrationen zu literarischen Werken aus Québec, oder bei OPEN BOOKS, wo auch Kim Thúy an Veranstaltungen mitwirkte. Ich traf die Autorin, deren Bücher bei Kunstmann erscheinen, abseits der Messe im luxuriösen Hotel Steigenberger Frankfurter Hof zu einem kurzen Interview.

Seit Langem ist sie das erste Mal wieder geflogen, um als Teil einer offiziellen Delegation die Generalgouverneurin auf ihrer Deutschlandreise zu begleiten, und so hat sich ihr Wunsch erfüllt, den sie bei unserem letzten Gespräch für eine Podcastfolge anlässlich des fünfjährigen Jubiläums der Veranstaltungsreihe Book and you geäußert hat.
Zuletzt ist ihr Roman Großer Bruder, kleine Schwester erschienen. Er ist einer von über 100 Titeln aus Québec, die anlässlich der Gastrolle Kanadas in deutscher Übersetzung erschienen sind. Welche dieser 100 Bücher würde sie dem deutschsprachigen Lesepublikum empfehlen? Ihre Antwort: „Das beste ist es wohl, sich all diese Bücher anzuschauen und so zu sehen, welche einen am meisten ansprechen, denn in über 100 Büchern steckt genug Vielfalt, stecken viele verschiedene Stimmen, dass wohl jeder etwas findet.“

Auch Michel Jean traf ich vor Ort. Der Autor, dessen Bücher Amun und Kukum im Wieser Verlag erschienen sind, war schon vor der Messe in Deutschland unterwegs. Ich fragte ihn nach seinen Eindrücken. „Als Leser“, antwortete er, „ist ein Besuch der Buchmesse wie der Besuch eines Amateurmechanikers in der Garage von Ferari, in der alle Teile glänzen. Darüber hinaus finde ich den geschäftlichen Teil der Messe faszinierend.“ Nicht nur fasziniert, sondern auch beeindruckt und erfreut hat ihn das Publikum hierzulande, genauso wie das mediale Interesse an ihm und seinem Roman Kukum.
Noch nicht auf Deutsch erschienen, aber druckfrisch aus Québec hatte der Autor seinen neuesten Roman Tiohtia:ke dabei. „Tiohtia:ke ist Mohawk und bedeutet Montréal“, erklärte er mir und ergänzte: „Das Buch erzählt von den Indigenen in der Stadt. Kukum ist Almandas Geschichte und kann als Liebesgeschichte oder Geschichte der erzwungenen Sedentarisierung gelesen werden. Danach kommt Jeannettes Geschichte in Atuk. Jeannette ist Almandas zweite Tochter und meine Oma. Mit Tiohtia:ke folgt der dritte Band einer nicht geplanten Trilogie.“ Auf die erzwungene Sedentarisierung der Innu folgte das Leben in den Reservaten, folgten die Zwangsinternate, folgten soziale Probleme. Viele Indigene leben obdachlos in den Städten und werden von den Städtern verurteilt. Um die Gründe für das Leben der indigenen Obdachlosen aufzuzeigen, hat Jean den Roman geschrieben. „Es sind die Kinder und Enkelkinder jener, die in den Zwangsinternaten waren, jene, die in Kukum als Kinder weggeholt wurden, und die es heute schwer haben“, sagte er.
Als die Messe am 24. Oktober zu Ende ging, endete schließlich auch für Kanada die Gastrolle. Wie am Messesonntag 2019 gab es die feierliche Übergabe, dieses mal von Kanada an Spanien. Ich freute mich über die Veröffentlichung zahlreicher Übersetzungen von Büchern aus Québec in den letzten drei Jahren, über Begegnungen mit den Autorinnen und Autoren und den Austausch mit Verlegerinnen, Lektoren und Journalisten. Wenn 2022 die Messe wieder stattfindet, bin ich gespannt, welche Effekte die Gastrolle für die Literaturen Kanadas hat und schaue weiter nach den Novitäten aus Québec und übersetzten Büchern.