Interview mit Éric Plamondon

16. Dezember 2016 | nachgefragt

Zwei Jahre nachdem ich den Autor Éric Plamondon zum ersten Mal auf der Buchmesse in Montréal zu einem Kurzinterview getroffen habe, lud ich ihn zu einer Lesung im Rahmen der Veranstaltungsreihe Book and you nach Berlin ein. An einem schönen Herbsttag landete er in Berlin Schönefeld und ich zeigte ihm die Stadt. Wir liefen vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor und tauschten uns über Montréal, Toronto, Bordeaux und Berlin aus. Nachdem die Sonne untergegangen war, setzten wir uns für ein Interview in eine Bar am Gendarmenmarkt. Und ganz nebenbei gab es einen Crashkurs mit deutschen Vokabeln wie „Prost“, „Gesundheit“ und „die Rechnung bitte“. Am nächsten Abend stellte er dem Berliner Publikum die Teile seiner Trilogie 1984 vor sowie seine Kurzgeschichte Ristigouche. Im Mittelpunkt seiner Trilogie steht Gabriel Rivages, der in einer Midlife-Crisis steckt und sich auf die Suche nach dem begibt, was ein Leben zu einem erfolgreichen oder gescheiterten macht. Über 1984 sprachen wir auch im Interview und er erzählte mir, was ihn zum Schreiben und nach Bordeaux geführt hat, außerdem verriet er mir, wie sein erster Roman entstanden ist. Und auch wenn er noch nicht viel über seinen nächsten Roman erzählen konnte, kündigte er zumindest dessen Veröffentlichung bei seinem Hausverlag in Québec, Le Quartanier, an.

Welchen Eindruck hast du nach dem herbstlichen Spaziergang von der deutschen Hauptstadt?

Éric: Ich denke, ich mag die Stadt sehr. Mit dem ganzen Grün um mich herum, den Parks und Bäumen habe ich mich gleich wohl gefühlt. Es ist das erste Mal, dass ich in einer Stadt in Europa bin und mich sofort an Montréal oder Toronto erinnert fühle. Ich mag zudem die Ruhe und die entspannten Leute hier. In Paris oder anderen Städten in Frankreich ist das ganz anders.

Wann bist du nach Bordeaux gezogen?

Éric: Das war 1996. Québec habe ich vor 20 Jahren verlassen, um mich in Frankreich niederzulassen.

Was war der Grund dafür?

Éric: 1995 arbeitete ich ein Jahr lang an der Universität von Toronto. Dort traf ich eine Frau aus Bordeaux, die mich für einen Sommer in ihre Heimatstadt eingeladen hat und ich bin nie wieder gegangen. Diese Frau ist auch heute noch meine Partnerin. Der Grund dafür war also die Liebe. Natürlich hat mich auch die Stadt verführt und ihre Umgebung, die Nähe zum Atlantik, zum Baskenland, zu Spanien, zu den Pyrenäen, aber auch der Rotwein, die Foie gras und die Muscheln. Nachdem ich all das gekostet und die Frau meines Lebens kennengelernt hatte, stand es außer Frage, von dort wieder wegzugehen.

Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Québec und Frankreich kannst du beschreiben?

Éric: Bordeaux und Québec (Stadt) sind seit vielen Jahren Partnerstädte und sie sind sich auch sehr ähnlich, bis auf das Klima, denn in Bordeaux gibt es keinen Winter. Sie sind in etwa gleich groß, vor 20 Jahren lebten in Bordeaux wie in Québec (Stadt) rund 600 000 Anwohner. Durch beide Städte fließt ein Fluss und sie ähneln sich auch in ihrer Atmosphäre. Als ich mit 27 Jahren Québec verlassen habe und nach Bordeaux gezogen bin, wurde mir nach einiger Zeit bewusst, wie sehr ich als Québécer doch auch amerikanisch bin. Das hat mich überrascht und ich denke, dass ich die Trilogie wohl nie geschrieben hätte, wenn ich Québec nicht verlassen und das festgestellt hätte. Auf der anderen Seite hatte ich den Eindruck, dass ich mich in Bordeaux näher an Québec dran fühlte, als in dem Jahr, in dem ich in Toronto gewohnt habe. Ich meine damit die Kultur und natürlich auch die Sprache. Als ich z.B. klein war, hörte ich mit meinem Vater George Brassens. In Toronto hatten die Leute keine Ahnung, wer das ist, während ihn in Bordeaux jeder kennt. Die kleinen Unterschiede waren erstaunlich.

Wie kam es dazu, dass du relativ spät mit deinem Debütroman angefangen hast?

Éric: Ich wollte mein ganzes Leben lang einen Roman schreiben. Und ich habe auch schon immer geschrieben. Manchmal sage ich zum Spaß, dass ich als kleiner Junge erst schreiben konnte und dann lesen. Ich ging an die Uni, studierte erst Ingenieurwesen, hörte damit aber schnell wieder auf, dann Wirtschaft, dann Journalismus und zum Schluss erfüllte ich mir meinen Traum und studierte Literatur. Ich ging von Québec (Stadt) nach Montréal und dort schrieb ich viel. Als ich dann nach Bordeaux gezogen bin, musste ich mir schnell einen Job suchen und fand einen. Nebenbei schrieb ich weiter. Das auslösende Moment für das Projekt Roman war dann die Dokumentation über das Leben von Johnny Weissmuller so wie ich es auch in Hongrie-Hollywood-Express beschreibe. Sein Leben war für mich eine Offenbarung. Es löste etwas bei mir aus, so dass plötzlich alles, was ich bisher geschrieben hatte – die Fragmente, die Versatzstücke, die Geschichten – zueinander fand. So begann die Umsetzung des Projekts und ich sage bewusst Projekt, denn zu Anfang war der Gedanke an eine Trilogie noch nicht vorhanden. Ich war bereits großer Bewunderer von Richard Brautigan. Ich habe eines seiner Bücher übersetzt, einfach weil ich es wollte. Es war eine wunderbare Übung, die ich von einem Dozenten aus einem meiner ersten Literaturkurse mit auf den Weg bekommen habe. Er sagte, dass man, bevor man ein Buch anfängt zu schreiben, eins übersetzt haben muss. Das ist bei mir hängen geblieben. Als ich dann Brautigan entdeckt habe, las ich alles von ihm, egal ob auf Französisch oder Englisch und auch wiederholt. Ich bekam Lust, sein letztes Buch zu übersetzen. Deshalb war Brautigan so präsent, als ich mit dem Schreiben der Trilogie anfing. Ich war von ihm wie besessen. Weissmuller hatte das Ganze ausgelöst und weil ich damals für eine amerikanische Werbefirma arbeitete, war ich mit dem Leben von Steve Jobs vertraut. Diese drei Menschen interessierten mich also, als ich an dem ersten Teil schrieb. Damals wusste ich noch nicht, dass es das war. Ich fing einfach zu schreiben an. Mit dem Fokus auf diese drei Menschen nahm das aber gewaltige Ausmaße an, so dass die Geschichte ziemlich kompliziert wurde. Daher zeichnete sich langsam die Trilogie ab, denn es hätte nichts gebracht, wenn ich alle drei Menschen in meinen ersten Roman gepackt hätte. Also bekam jeder sein eigenes Buch.

Die drei Teile sind unter dem Titel 1984 vereint. Anstelle der einfachen Zuweisung Teil 1, 2 und 3 hat jedes Buch seinen eigenen Titel. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Éric: Die Auswahl der Titel habe ich zusammen mit dem Verlag Le Quartanier getroffen. Uns war klar, dass der Titel der Trilogie 1984 war. Aber weil sie damals noch nicht fertig geschrieben war, wollten wir auch individuelle Titel. Manchmal werden vollständig geschriebene, umfangreiche Bücher in drei Teile unterteilt, damit sie sich besser verkaufen. Bei mir war es aber so, dass es Teil 2 und 3 noch nicht gab, als der erste Roman veröffentlicht wurde.
Die Ideen für die einzelnen Titel bekamen wir immer zum Ende des Schreib- und Arbeitsprozesses. Somit können die Bücher auch für sich allein stehen, auch wenn sie Teil einer Trilogie sind.

Hongrie-Hollywood Express erinnert an das Buch The Tokyo-Montana Express von Richard Brautigan und auch Mayonnaise spielt auf den Autor der Beatnik-Generation in den USA der 1960er Jahre an.

Éric: Weil Hongrie-Hollywood Express am Ende die Frage der Mayonnaise aufwirft, ja. Deshalb haben wir mit Mayonnaise weitergemacht. Pomme S führt dann weiter weg von ihm. Hongrie-Hollywood Express verweist natürlich auf Brautigan, aber eben auch auf Weissmuller, dessen Eltern von Ungarn in die USA gegangen sind.

Es gibt so viele Verweise in deinen Büchern, die zudem so aufgebaut sind, dass sie nie langweilig werden. Wie bist du auf diese Struktur gekommen?

Éric: Brautigan hat mich darauf gebracht, denn auch er verfasste ziemlich kurze Kapitel und arbeitete mit Fragmenten. Aber auch Melville hat mich dazu inspiriert. Sein Buch Moby Dick ist für mich auf diese Art konstruiert. Wenn man seinen Roman öffnet, den er 1851 veröffentlicht hat, dann findet man auf den ersten Seiten Auszüge und Zitate z.B. von Shakespeare oder aus der Bibel, in denen es um den Wal und die Entwicklung der Zivilisation geht. In dieser Hinsicht finde ich Melville sehr modern. Hätte er seinen Roman um das Jahr 2000 herum geschrieben, hätte man ihn als Wikipedia-Roman bezeichnet, er schrieb ihn aber 1851. Das hat mich bei Melville immer beeindruckt.
Ich mochte es auch schon immer, wenn ich beim Lesen Neues dazugelernt habe. Für mich ist die Literatur das beste Mittel, um die Welt kennenzulernen. Ich gehe so vor, dass ich alles recherchiere, was mich interessiert. So schreibe ich über sehr viele Dinge. Das Geschriebene lasse ich dann liegen, um es später zu überarbeiten und nur das Wichtigste zu behalten. Ich will nicht alles sagen und dafür dient mir das Fragmenthafte in der Trilogie. Auf diese Weise lasse ich dem Leser wie mir selbst als Autor genug Raum. Die Leerstellen zwischen den Kapiteln fordern dem Leser etwas ab, er muss die Verbindungen herstellen. Somit kommen ihm 50 % der Arbeit zu.

Im Mittelpunkt deiner Geschichte steht die Hauptfigur Gabriel Rivages. Er ist gerade 40 Jahre alt geworden und durchlebt eine Lebenskrise. Um diese zu überwinden nimmt er das Leben der drei Menschen des öffentlichen Lebens unter die Lupe und nimmt auch Bezug auf die Biographien von Weissmuller und Brautigan von deren Kinder. Wie viel Fiktion steckt darin und wie viel an Fakten? Und wie viel aus deinem eigenen Leben?

Éric: Die Frage stellt man mir oft und ich sage dann immer, dass es wahre falsche Biographien sind. Einige Dinge im Leben der Menschen sind echt, andere sind es nicht. So ist das auch bei mir, wobei ich das nicht in Zahlen ausdrücken kann. Das Thema der Vaterschaft ist aufwühlend. Über das Schreiben nahm ich Besitz dieser drei Menschen, die in mein Leben gekommen sind, weil ich mich für sie interessierte. Weissmuller war nicht wirklich eine Waise, aber sein Vater ging weg, als er klein war und seine Mutter erzählte ihm, dass er tot sei. Er wuchs ohne Vater auf. Brautigan hat seinen Vater nie gekannt und ich schreibe in Mayonnaise, dass ihm seine Mutter nie erzählt hat, dass er tot war, aber als Kind hatte er noch einen anderen Namen, weil er von einem anderen Mann aufgezogen wurde. Er hat nie herausgefunden, wer sein richtiger Vater war. Von Steve Jobs weiß man, dass er Waise war und dann adoptiert wurde. Als ich anfing, über sie zu schreiben, erzählte mir meine Mutter, dass mein Vater nicht mein Erzeuger ist. Bevor ich in das Leben dieser drei Menschen schlüpfte, hatte ich keinen Schimmer. Die Fiktion übertrug sich also auf meine Realität. Es gab etwas, dass stärker als das Schreiben war, das mich zu diesen drei Menschen geführt hatte. Das ist beängstigend.
In Hongrie-Hollywood Express ist es die Rolle der Mutter, die im Fokus liegt, auch wenn es um den Vater geht, in Mayonnaise ist es dann der Vater und in Pomme S dreht es sich um den Sohn. Es geht um die Weiterentwicklung in der Familie, aber auch um die Zukunft. Bei Steve Jobs geht das besser aus als bei Weissmuller und Brautigan, auch wenn er am Ende an Krebs stirbt. Seine Karriere führte er nach einem überwundenen Tiefpunkt fort.

Als ich 1984 in einem Band wieder gelesen haben, sind mir die ganzen Hinweise auf Deutschland aufgefallen. Erinnerst du dich daran?

Éric: Der Vater von Brautigan hat deutsche Wurzeln. Weissmuller kommt aus der näheren Umgebung. Deutschland ist also präsent. Es gibt auch ein Kapitel, das heißt „Arbeit macht frei“. Es ist wichtig und verweist auch auf Orwell‘s Buch 1984. Der Zweite Weltkrieg war für die Gesellschaft ein Trauma. Man kann nicht von der Menschheit sprechen, ohne vom Zweiten Weltkrieg zu reden. Das bezieht also Deutschland mit ein.

Es gibt aber auch andere Hinweise, z.B. wenn Gabriel mit einem Freund am Québecer Nationalfeiertag unterwegs ist und dieser Löwenbräu trinkt.

Éric: Das stimmt. Zu der Zeit zählte das Löwenbräu zu den besseren Bieren. Wenn man es trank, war man eher versnobt. Ich weiß nicht, ob es das heute noch gibt. Ich fand die Banderolen mit dem goldenen Drachen sehr hübsch. Darin unterschied es sich sehr vom Molson Dry aus den Laurtentides in Québec.

Vielleicht erscheint die Trilogie eines Tages auch auf Deutsch. Der erste Teil wurde nun in englischer Übersetzung beim Montréaler Verlag Véhicule Press veröffentlicht. Dimitri Nasrallah, ebenfalls Autor, hat ihn übersetzt. Kam es zu einem Austausch?

Éric: Zuerst hat er das Buch komplett übersetzt, dann hat er mir seine Übersetzung geschickt. Er hatte einige Stellen markiert, über die er mit mir sprechen wollte. Ich hatte ein paar Vorschläge, über die wir uns ausgetauscht haben. An manchen Stellen versuchten wir zusammen die eleganteste Lösung zu finden. Er hat eine sehr gute Arbeit geleistet. Ich habe die Übersetzung vor der Veröffentlichung noch einmal gelesen und jetzt kann ich das Buch in den Händen halten. Es liest sich auf Englisch sehr gut. Ich muss aber sagen, dass es ein komisches Gefühl ist, die eigenen Worte in einer anderen Sprache wiederzufinden, aber ich bin froh, dass ich es kann. Wenn es auf Deutsch veröffentlicht würde, könnte ich das nicht, denn ich kann kein Deutsch. Es ist seltsam, denn ich weiß natürlich, dass ich das geschrieben habe, aber gleichzeitig fühlt es sich nicht mehr so an. Es hat etwas Überraschendes und es wirkt manchmal, als würde ich ein anderes Buch lesen, auch wenn ich weiß, was kommt.

Am Ende der Trilogie gibt es eine umfangreiche Inhaltsangabe. Brautigan hat diese als eine Form von Gedicht betrachtet. Ich habe versucht, deine als Gedicht zu lesen, was nicht ganz geklappt hat. Hattest du daran gedacht?

Éric: Das hätte ich gerne umgesetzt, aber Brautigan wählte immer sehr lange Titel für seine Kapitel, die fast wie Sätze waren. Somit hatte er es leichter. Im ersten Teil habe ich damit gespielt, weniger bei Mayonnaise und Pomme S. Ich hatte weniger die Summe der Titel im Kopf, die ein Gedicht ergeben hätte können, sondern eher dass jeder Titel seinem Text gerecht wird.

Als wir uns vor etwa zwei Jahren in Montréal auf der Buchmesse getroffen haben, hast du mir verraten, dass dich deine Kurzgeschichte Ristigouche zu einem neuen Roman inspiriert hat. Wie sieht es damit aus?

Éric: Aus Ristigouche ist wirklich ein neues Buch entstanden, das gerade beim Verlag liegt und im nächsten Jahr erscheinen wird. Mehr kann ich dazu nicht sagen, nur dass es so geworden ist, wie ich es mir vorgestellt habe.

Und meine abschließende Frage kennst du ja schon: Welche Bücher aus Québec kannst du gerade empfehlen?

Éric: Als letztes habe ich Kuei, je te salue von Natasha Kanapé Fontaine und Deni Ellis Béchard gelesen. Es ist ein Briefaustausch, in dem es um das Thema der Ureinwohner in Québec geht. Ich fand das sehr interessant, weil es in meinem übernächsten Roman auch darum gehen wird. Er spielt in einem Indianerreservat in der Gaspésie. Vor einer Weile habe ich Salut Galarneau! von Jacques Godbout noch einmal gelesen. Darin gab es drei Verweise auf Tarzan und Johnny Weissmuller. Hätte ich mich vorher daran erinnert, hätte ich zumindest einen in Hongrie-Hollywood Express aufgenommen. Zu den aktuelleren Titeln gehören Six degrés de liberté von Nicolas Dickner, der noch auf meiner Zu-lesen-Liste steht, und L’année la plus longue von Daniel Grenier. Vor Kurzem habe ich ein richtig gutes Buch von Pasha Malla gelesen. Die französische Übersetzung ist bei Le Quartanier erschienen und ich habe dazu auf meiner Facebookseite geschrieben, dass ich selten bei einem Buch so gelacht habe, außer bei Brautigan. Das Buch heißt Nos grands-pères les fantômes von Pasha Malla.