Interview mit Peter Klaus

30. November 2018 | nachgefragt

Peter Klaus lehrte an der Freien Universität Berlin, engagiert sich in der Vermittlung der Québecer Literatur. Zur Québecer Literatur war er über einen Kollegen an der Universität gekommen, der ihm angeboten hat, ein Seminar über die Akadie zu machen. Darauf folgten weitere Seminare und die Vorbereitung einer Exkursion nach Québec mit seinen Studenten, während der er zahlreiche Kontakte zu Institutionen, Universitäten, Verlagen und Autoren geknüpft hat. Im Jahr 2000 hat er bei Reclam das Buch Conteurs franco-canadiens herausgegeben. 2017 wurde er zum Chevalier de l‘Ordre national du Québec ernannt. Er wurde damit für sein Engagement gewürdigt, mit dem er zur Wahrnehmung und Anerkennung der Québecer Kultur in der Forschung in Deutschland und im Ausland beigetragen hat. Die Québecer Tageszeitung Le Devoir titelte diesbezüglich mit „L’homme qui fait rayonner la littérature québécoise en Allemagne“. Ich habe Peter Klaus 2010 auf einem Literatur-Workshop zur Migrantenliteratur aus Deutschland und Québec an der Freien Universität kennengelernt und traf ihn Jahre später an der Universität, an der er gelehrt und ich studiert habe, zu einem Interview. Ich wollte von ihm wissen, wie er zur französischsprachigen Literatur Kanadas gekommen ist und wie sie sich, vor allem die Québecer Literatur, in den letzten Jahren gewandelt hat, welche Tendenzen er beobachtet und wie sich ihre Wahrnehmung in Deutschland verändert hat, und natürlich wie es sich anfühlt, solch eine Auszeichnung zu bekommen.

Was waren deine ersten Bücher aus Kanada, die du gelesen hast?

Peter: Pélagie-la-charette von einer Autorin aus der Akadie, Antonine Maillet. Le cassé von Jacques Renault, ein damals skandalumwitterter, der erste und einzige auf Joual geschriebene Roman. Er war mein erster Gast an der FU im Sommer 1984 und praktisch der Beginn einer langen Freundschaft und mit ihr die Begeisterung für die Québecer Literatur. Alle großen, bedeutenden Schriftsteller kamen nach Berlin, dank der Unterstützung sowohl durch die FU als auch der Botschaft von Kanada, der Gesellschaft für Kanada-Studien und später der AIEQ.

Du hast viele Seminare zur frankokanadischen und Québecer Literatur gegeben. Wie kam das bei den Studierenden an?

Peter: Es ist erstaunlich wie groß die Resonanz bei den Studenten war. Ich glaube, das liegt zum einen vielleicht an der Person des Dozenten, zum anderen am Thema. Die Studenten wollten etwas machen, das außerhalb der gängigen Themenbereiche lag und da war die Neue Romania mit ihrem frankokanadischen Bezug ganz willkommen. Die Seminare hatten in der Regel zwischen 15 und 25 Teilnehmer. Ein Seminar ist völlig aus dem Ruder gelaufen mit über 56 Teilnehmern. Auch die Hauptseminare, die ich mit anderen Kollegen zusammen gehalten habe, waren in der Regel sehr gut besucht, z.B. die Hauptseminare zu den beiden kanadischen Literaturen mit Heinz Ickstadt. Wir waren da Pioniere in zweierlei Hinsicht: in der Entdeckung der écriture migrante und in der Gestaltung von Seminaren, die beide Literaturen Kanadas vereint. Das wurde sonst nirgendwo angeboten.

Gab es Seminare, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?

Peter: Da gab es mehrere. Ich hab ja überwiegend Überblicksveranstaltungen gegeben, z.B. zu Theaterstücken, die in den 1970er und 80er Jahren gelaufen sind oder zu Autoren, die während Zeiten des Umbruchs geschrieben haben, z.B. Jacques Godbout mit Salut Galarneau! während der Révolution tranquille. Die waren immer der Renner. Auch bei Anne Hébert und ihren Romanen und Erzählungen hatte ich sehr positive Resonanz von den Studenten bekommen. Natürlich liefen die Seminare richtig gut, zu denen es ein besonderes Bonbon gab und das war die Präsenz der Autoren: z.B. von Michel Tremblay, Marie Laberge, Jacques Godbout, Émile Olivier, Naïm Kattan, Dany Laferrière und ich könnte die Liste fortführen. Dass der Besuch der Autoren immer ein Highlight war, zeigt natürlich, dass man Literatur nicht im Vakuum verhandeln soll, sondern man muss immer gesamtgesellschaftliche Verhältnisse, Entwicklungen, Entstehungsprozesse bei der Betrachtung miteinbeziehen. Wie kommt es z.B. zu dieser sprachpolitischen Literatur in den 1970er Jahren in Québec? Das hat mit der Umwelt und der Gesellschaft zu tun. Wie kommt es dazu, dass in den 1980er Jahren das syndrome de l‘enfermement überwunden wurde? Weil die Gesellschaft inzwischen ihre Urängste mehr oder weniger abgelegt hat und die Außenwelt miteinbezieht und auch, weil die Außenwelt sich durch die vielen Einwanderer, die sich auf Französisch äußern in Québec manifestiert und ihren Teil dazu beitragen, dass sie die Gesellschaft in dieser Art multikulturell verändert. Das ist eine etwas plakativ optimistische Sicht, aber ich glaube, dass sie in vielen Bereichen wohl stimmt, cum grano salis.

Die Texte, die du in deinen Seminaren behandelt hast, waren nicht übersetzt.

Peter: Die Seminare habe ich immer auf Französisch gehalten. Die Texte wurden immer auf Französisch abgehandelt. Die Referate wurden auf Französisch gehalten. Die Hausarbeiten auf Französisch geschrieben. Für die Studenten war das schon eine große Anforderung. Sie mussten alles auf Französisch über sich ergehen lassen. Wir hatten auch Hörbeispiele aus der Literatur und man weiß ja, dass das Québec-Französisch, wenn man sich nicht eingehört hat, erst einmal gewöhnungsbedürftig ist. Aber nicht jeder Autor oder jeder Schauspieler hat einen Akzent wie die akadische Schauspielerin Viola Léger in Antonine Maillets La sagouine, den viele, auch Franzosen, nicht verstehen.

Wie sieht es mit der Québecer Literatur auf dem deutschen Buchmarkt aus? Was kann sie beitragen?

Peter: Eine schwierige Frage. Zuerst müsste man da über das Verhältnis zwischen Frankreich und Québec reden. Die Französische Literaturszene hat die anderen frankofonen Literaturen bis in die 1980er Jahre so gut wie nicht wahrgenommen oder rezipiert. Wenn man in eine französische Buchhandlung gegangen ist, fand man die Literatur aus Québec entweder in der Kategorie littérature étrangère eingeordnet oder gleich vereinnahmt wie die Belgier. Wenn man in den 1980er Jahren in Montréal in eine Buchhandlung gegangen ist und nach littérature québécoise gesucht hat, fand man sie im hinteren Bereich, während im Schaufenster die Literatur aus Frankreich auslag. Das hat sich erst in dem darauffolgenden Jahrzehnt geändert.
Deutschland ist ein Land, das selber viel produziert, das aber auch sehr viel übersetzt, viel mehr z.B. als Frankreich. Inzwischen ist die Resonanz im Bezug auf frankofone Literatur in Übersetzung gut, aber ich habe mich da nie so sehr um die Rezeption gekümmert. Kanada gilt ja immer als ein nicht so sehr aufregendes Land, abgesehen von der Landschaft vielleicht, als ein bisschen langweilig und das sagen sie ja auch selbst. Erst mit Vorzeigeschriftstellern wie Dany Laferrière oder Marie Laberge, die eine besondere Note in die Literatur bringen, zeigt sich, dass Québec auch eine interessante Literatur produziert. Dany Laferrière wird in Deutschland ganz gut rezipiert, inzwischen auch auf Deutsch. Kim Thúy genauso. Bei Autoren wie Michel Tremblay ist die Übersetzung aufgrund der Sprache eine Herausforderung. Jetzt gibt es eine neue Generation, die universeller aufgestellt ist, die man nicht mehr so leicht mit Regionaltendenzen etikettieren kann wie Éric Dupont, Éric Plamondon, Yann Martell und andere. Besonders in der Verhandlung des Multikulturalismus in Europa könnte es interessant sein zu sehen, inwiefern wegweisende Hinweise aus Kanada kommen.

Wenn du auf deine Zeit an der Universität zurückblickst und auf das, was du für die Québecer Kultur erreicht hast, wie fällt da dein Fazit aus?

Peter: Ich bin eigentlich sehr zufrieden, erstens wegen der fortbestehenden Kontakte zu Literaturbegeisterten, die sich in der Welt verteilen. Mein Netzwerk beginnt in Taiwan und geht bis über Indien nach Kanada und bezieht einige osteuropäische Länder mit ein, wo ich sehr viel unterwegs war: Ungarn, Tschechien, Polen und Rumänien. Wir haben versucht, den überkommenen traditionellen Kanon zu durchbrechen. Im Nachhinein hat es nicht den Erfolg gehabt, auf den wir gehofft haben, weil es keine Nachfolge gibt, weil die Interessen der nachfolgenden Generation andere sind. Das ist schade und bedauerlich. Aber was mich betrifft, bin ich immer noch verzahnt, bin immer noch aktiv und versuche das, was ich bisher getan habe noch weiter zu treiben, ob das jetzt Artikel sind, die Mitarbeit an dem Internationalen Graduiertenkolleg oder einfach nur die persönlichen Verbindungen zu Kollegen weltweit, die Freunde geworden sind. Und ich schließe nicht aus, dass ich darüber noch was schreibe.

Da fällt mir das Reclam-Büchlein ein, dass du zu frankokanadischen Erzählern gemacht hast. Wie kam es dazu und welche Autoren hast du dafür ausgewählt?

Peter: Ein Kollege und Freund, der Kontakt zu Reclam hatte, hat mich deswegen angesprochen. Also haben wir ein Bändchen zu frankokanadischen Erzählern gemacht. Das Bändchen so zu nennen, war schon ein Politikum. Es heißt ja Conteurs franco-canadiens und das war zum Teil meine Entscheidung, zum Teil aber auch die des Verlags. Wir haben uns gesagt, „conteurs québécois“ kennt keiner oder nur wenige und „franco-canadiens“ gab es damals nicht als offizielle Bezeichnung, also habe ich sie kreiert. Conteurs franco-canadiens ist auf meinem Mist gewachsen, obwohl die Autoren bis auf die letzten beiden aus Québec sind. Die Auswahl war sehr schwer, weil es damals schon sehr viele Anthologien gab. Ich wollte einen generationsübergreifenden Überblick über Autoren geben. Zum Teil sind Texte eingeflossen, die sich schon bewährt hatten, u.a. im Unterricht am französischen Gymnasium. Meine Frau hat mir den Felix Leclerc aufgedrückt. Der musste da rein. Bei den anderen Autoren war es schwieriger, denn es sollten ja auch solche Geschichten rein, die spezielle Streiflichter werfen. Von Roch Carrier habe ich mit „Le pain“ einen sehr griffigen, kurzen Text gewählt. Von Yves Thériault, der bekannteste Autor und Erzähler Québecs, der den größten Teil seiner Werke den Minderheiten gewidmet hat, ist die Geschichte „La mariouche c‘est pour un blanc“. Sie ist einfach geschrieben und schildert das Verhältnis zwischen Weißen und Indianern. Genau das wollte ich auch in diesem kleinen Kanon reingebracht haben, nicht nur amüsante Geschichten, sondern auch etwas, das zum Nachdenken anregt. Es mussten aber auch Autoren rein, die nicht Québecois waren und das waren Stanley Péan, der in Haiti geboren wurde und als Einjähriger mit seiner Familie nach Chicoutimi gekommen war, und Marilù Mallet, die aus Santiago de Chile stammt und Filmemachern ist. Die Novellensammlungen beider hatte ich in meinem Unterricht gelesen und sie sind unheimlich gut bei den Studierenden angekommen. Sie haben also irgendwo ihre Bewährungsprobe gehabt. Trotzdem war die Entscheidung hart, weil es so viele gute Erzählungen gab.Das Büchlein hat übrigens gute Resonanz bekommen und ist auch immer noch im Buchhandel verfügbar. Ich habe immer ein paar Exemplare mit nach Indien genommen und dort an Kollegen und Studierende verschenkt. Und eines Tages haben mir zwei meiner indischen Kollegen erzählt, dass sie einige Texte daraus in indische Sprachen übersetzt haben.

Ein tolles Beispiel für dein Engagement. 2017 hast du eine besondere Ehrung erhalten. Du wurdest mit dem Ordre national du Québec ausgezeichnet. Was bedeutet dir das?

Peter: Eigentlich habe ich mich nie um solche Ehrungen gerissen. Ganz und gar nicht. Und ich will nicht sagen, dass es mir peinlich ist. Das nicht. Aber es hat mich doch berührt, vor allem als die Zeremonie im Parlament von Québec stattgefunden hat. Ich war der Einzige, der im Beisein von etwa 50 Personen geehrt wurde. Dass der Premierminister eine Lobrede auf mich gehalten hat und auch Monsieur Paquet, Präsident des Ordre national du Québec und ehemaliger Rektor der Universität von Laval, das war schon sehr anrührend. Im Nachhinein muss ich auch sagen, dass es nicht unverdient ist. Ich habe mich über die Jahrzehnte auf verschiedenen Feldern betätigt, immer indem ich Leute, Studierende, Kollegen und Autoren zusammengebracht habe. Ich war in vielen Ausschüssen und Jurys, wo wir direkt unsere Auswahlprogramme entschieden haben und da konnte man sehr viele Biographien positiv beeinflussen. Dann sind da noch die indirekten Resultate meiner Beschäftigung mit Québec, wo ich bei Leuten vielleicht zunächst einmal Interesse geweckt habe und die dann selber vor Ort sehen wollten, was es damit auf sich hat. Einige sind als Fremdsprachenassistenten rübergegangen, haben sich dort sozialisiert und sind geblieben. In manchen Fällen war der Auslöser also Peter Klaus, mit meiner zurückhaltenden, nachhaltigen Wirkung. Im Endeffekt ziehe ich eine positive Bilanz. Vor allem weil ich ja nicht nur in Québec geehrt worden bin, sondern vor ein paar Jahren auch in Indien durch den Französischlehrerverband. Ich habe dort deren Preis für meine Verdienste um die Frankofonie in Indien bekommen und das beinhaltet natürlich die littérature québécoise.

Wie nimmst du die Québecer Literatur heute wahr? Wie hat sie sich verändert zu der Zeit, in der du sie kennengelernt hast?

Peter: Ich habe ja schon anklingen lassen, dass die junge Generation viel weltoffener ist und das schließt ein, dass das zu Anfang vielleicht nicht so war. Wenn man sich die 1970er und 80er Jahre der Literatur anschaut, dann war Québec zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit dem Überlebenskampf sowohl demografisch wie auch sprachlich und kulturell. Da gab es ja dieses syndrome de la disparition. Inzwischen ist das durch die Loi 101 überwunden. Die Anglos, die damals ins anglophone Umfeld, nach Toronto oder anderswohin, ausgewandert sind, kommen jetzt wieder und werden willkommen geheißen. Dieses Signal sendet Québec jetzt aus. Es ist ein Signal, das aus einer Position des Selbstbewusstseins kommt. Man ist sich seiner eigenen Werte, seiner eigenen Qualität sicherer und das sieht man ja auch an der Resonanz im Ausland. Die Kultur Québecs vermarktet sich weltweit gut mit dem Vorzeigeobjekt Cirque du Soleil, den performances von Robert Lepage, dem Theater in Québec, das viele internationale Kooperationen hat u.a. auch mit Berliner Bühnen. Québec hat sich, so klein es ist und so klein die Bevölkerung im Vergleich ist, zu einer großen Kulturnation gemausert, die sehr vielfältig und sehr innovativ ist und deren junge Vertreter selbstbewusst und sich ihrer eigenen Qualitäten sicher sind. Vielleicht wird noch zu viel produziert. Manches hätte eher in den Seminaren für kreatives Schreiben bleiben sollen. Aber insgesamt sehe ich das, was sich da tut, positiver als manche Kritiker.
Was mir jetzt zunehmend noch am Herzen liegt und was aktuell verstärkt zum Ausdruck kommt, ist der Beitrag der Amerindianer. Ich habe auch Naomi Fontaines preisgekrönten zweiten Roman gekauft und darüber bereits Vorträge gehalten. Das ist zukunftsversprechend, zukunftsweisend und da sieht man wieder, dass Québec auf seine Wurzeln zurückgeführt wird. Neulich hat ein Vertreter der Mohawk in Montréal gesagt: „Ja die Kolonialgeschichte begann ja eigentlich mit einer Geschichte der refugiés. Die weißen Europäer sind quasi als refugiés zu uns gekommen.“ Das finde ich so ein treffendes Argument, um mal Kolonialgeschichte von der anderen Seite zu sehen, von denen, die sie erlitten haben. Es wäre eine wichtige Wiedergutmachung, dass man auch da mal zeigt, es geht auch anders und auf Französisch. Ich glaube, wir können uns noch auf einiges einstellen.