Die Kunst dient als Ausdruck von Emotionen, von Reflexionen. Doch wer kann Dinge ausdrücken, die er selbst nicht erlebt hat? Im Roman ist Mikaël Dozent einer Theaterklasse und probt mit ihnen ein Stück ein, in dem es um Krieg geht. In der Endszene steht ein Soldat einem Jungen gegenüber, der gerade die Ermordung seiner Eltern mitangesehen hat. Der Soldat gibt ihm die Möglichkeit, ihm einen Grund zu nennen, so dass er verschont bleibt. Aber welcher Grund könnte das sein? Larry Tremblay hat sich in seinem Roman L’orangeraie einem heiklen Thema zugewandt und blieb damit nicht unbemerkt. Sein Roman erhielt zahlreiche Nominierungen und Literaturpreise und wird in den kommenden Monaten in zahlreichen anderen Ländern erscheinen. Auf dem Salon du livre vergangenen November in Montréal habe ich den Autor zu einem Interview getroffen. Wir sprachen über die Kulturszene in Québec, seinen Roman und seine Erfahrungen in Deutschland, wo bereits das eine oder andere seiner Theaterstücke aufgeführt wurde.
Sie sind ein Autor, der seit mehreren Jahren Teil der Québecer Kulturszene ist. L’orangeraie ist Ihr fünfter Roman. Wie würden Sie die Kulturszene in Québec beschreiben?
Larry Tremblay: Die Kulturszene ist sehr vielseitig und sie ist auch sehr dynamisch. Ich kenne die Theater- und Literaturszene ganz gut, weniger die Musikszene, ein wenig die Tanzszene und noch weniger alles, was mit der digitalen und darstellenden Kunst zu tun hat. Vor einigen Jahren kannte ich wenig von all dem, aber im Laufe der Zeit musste ich mich auf das Theater und die Literatur konzentrieren. Ich bin immer wieder erstaunt über die neuen Stimmen, die hier in Québec ziemlich schnell auftauchen. Wir mögen gerne das, was neu ist. Es gibt neue Stimmen, neue Autoren, neue Regisseure, neue Bühnenautoren, seit einigen Jahren vor allem im Bereich des dramatischen Schreibens. Bühnenautoren werden an der École national du théâtre ausgebildet, an der ich unterrichtet habe. Das wirkte sich eindeutig auf die Qualität der neuen Bühnenautoren aus. Ich spreche überwiegend vom Theater, weil das mein Bereich ist.
Seit etwa zehn Jahren gibt es auch neue Verlage wie Alto, Le Quartanier, La Peuplade, die neue Autoren hervorbrachten oder die abgehärtete Autoren zurückbrachten und sie auf ein anderes Niveau gehoben haben, was bei mir der Fall war.
Die Geschichte in L’orangeraie beginnt in einem namenlosen Land. Eingeführt werden zwei Brüder, Zwillinge, die in ihrer Kindheit von ihren Eltern und den Großeltern umgeben sind. Sie leben auf einer Orangenplantage, was das Bild von einem Paradies evoziert.
Larry Tremblay: Für mich ist sie eine Metapher für das verlorene Paradies.
Dann auf einmal ändert sich alles und sie sind gezwungen, ihre Kindheit hinter sich zu lassen. Die Beziehung zwischen den Brüdern ist sehr eng. Erzählen Sie mir von Amed und Aziz!
Larry Tremblay: Von Anfang an gab es eine Falle. Wenn man sich Zwillinge vorstellt, glaubt man immer sie seien einander gleich, vor allem, wenn sie sich äußerlich ähneln. Die Falle bestand darin zu glauben, dass sie auf die gleiche Weise sprechen, sich gleich verhalten. Ich habe versucht, die Falle zu umgehen und zu zeigen, dass sie sich in ihrem Inneren sehr unterscheiden. Aziz ist körperlich krank, aber er ist viel entschlossener als sein Bruder Amed, der viel sensibler ist und der Stimmen hört, der also viel offener für andersartige Phänomene ist. Er ist verspielter und gleichzeitig kann er mit den Verstorbenen kommunizieren. Aziz hat diese Art von Erscheinungen nicht, in denen er Stimmen hört. Auch in Bezug auf die Mission, in der sie dazu gezwungen sind, einen Sprengstoffgürtel zu tragen, von der man das Ergebnis nicht erfährt, ist Aziz viel entschlossener, während Amed Angst hat. Er spricht nicht davon, erst viel später, nachdem die Sache erledigt ist. Sie sind sehr unterschiedlich und genauso wollte ich meine kleinen Figuren haben.
Sie beschreiben die Situationen, in denen sich die Figuren befinden, manchmal die Hintergründe, aber es gibt auch Auslassungen. Wie kam es zu dieser Form der Annäherung an das Thema des Krieges?
Larry Tremblay: Ich komme vom Theater und für mich enthält ein Theatertext Lücken. Gäbe es keine Lücken, könnte man ihn nicht wirklich spielen, weil es auch noch den Körper und die Stimme des Schauspielers gibt, die Inszenierung, das Dekor. Wenn der Text alles sagt, gibt es keinen Platz für die Arbeit der Schauspieler und des Regisseurs. Der Theatertext muss also löchrig sein.
L’orangeraie ist zwar kein Theaterstück, aber mein Roman enthält darstellerische Elemente: die Struktur ist tragisch, inspiriert von griechischen Tragödien. Die Eltern müssen die schwierige Entscheidung treffen, den einen oder den anderen Sohn zu wählen. Das ist wahrhaftig eine Tragödie, also muss man sich auf das Wichtige konzentrieren. Ich beschreibe sehr wenig, sage nicht, wie sie gekleidet sind, was sie essen. Die Gespräche sind Dialoge, um die Handlung voranzutreiben, wie im Theater. In diese Richtung habe ich mir meinen Roman vorgestellt, sehr dicht, sehr kurz und mit vielen Dialogen, sehr theatralisch also.
Der Roman ist in drei Teile gegliedert, die mit Amed, Aziz und Sony betitelt sind. Jeder Teil findet zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort statt und veranschaulicht eine andere Perspektive. Vom ersten zum zweiten Teil findet eine geografische Distanzierung statt. Was bedeutet diese für die Geschichte?
Larry Tremblay: Sie ermöglicht das Nachdenken. Ich habe im dritten Teil eine weitere Figur hinzugefügt, Mikaël. Mikaëls Funktion im Roman ist, dass er ein wenig zum Leser des Romans wird, indem er sich Fragen über den Krieg stellt und darüber, ob er das Recht als Künstler hat z.B. von Dingen zu reden, die er selbst nicht erlebt hat. Ich war nie in einem Krieg, habe den Krieg nicht erlebt. In Québec geht es uns gut. Habe ich also das Recht, darüber zu schreiben? Ist es nicht sogar meine bürgerliche Pflicht, das zu tun? Meine Antwort ist ein deutliches Ja. Die Künstler müssen über die Welt reden, in der sie leben. Und die heutige Welt ist globalisiert, das, was in diesen Ländern geschieht, geht mich etwas an und das müssen wir berücksichtigen.
Es sind hauptsächlich Stimmen von Männern, die man in L’orangeraie hört. Der Vater Zohal trifft die Entscheidung, während die Mutter nur verdeckt zu Wort kommt.
Larry Tremblay: Die Mutter ist sehr wichtig. Ich reflektiere die gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen in den Ländern, in denen die Frauen hinter Schleiern versteckt sind und wo die Männer die Entscheidungen treffen. Die Zwillinge sind Jungs und keine Mädchen. Auch die, die generell die Menschen manipulieren und verführen sind Männer, wie Soulayed. So fand ich mich umgeben von nahezu nur männlichen Figuren bis auf die Mutter. Sie stellt ein feinfühliges, gefühlvolles, praktisch denkendes Gegengewicht dar. Sie denkt praktischer in der Entscheidung um ihre beiden Söhne, während ihr Mann die ideologische Seite, die Beziehung zu Gott repräsentiert. Die Mutter denkt nicht so wie der Vater. Sie denkt mit ihrem Herzen, während er im Hinblick auf den sozialen Druck entscheidet. Auf diese Art wollte ich unterschiedliche Verhalten in einem spezifischen, unvergleichlichen Kontext aufzeigen.
Sie haben Soulayed kurz erwähnt. Er erscheint als jemand sehr Wichtiges, der die Menschen besucht und mit den Familienvätern spricht, damit sie ihre Söhne opfern. Er erschafft das Bild der Anderen und gibt nur die Informationen preis, die nötig sind. Einen Teil der Realität lässt er außen vor und inszeniert somit den Krieg.
Larry Tremblay: Ja genau. Er schürt den Hass des Feindes. Als er das erste Mal die Eltern aufsucht, kommt er mit Manahal und Halim. Halim ist der einzige Sohn von Manahal. Zohal ist Vater von Zwillingen. Somit fühlt er sich dazu gedrungen, einen seiner Söhne zu opfern, weil er ja zwei hat. Soulayed sagt zu ihm: „Hör zu, er hat nur einen Sohn, den er geopfert hat. Du, du hast zwei. Du hast Glück. Du kannst zumindest einen opfern.“ Damit habe ich die Art von Manipulation seitens Soulayed integriert, um zu zeigen, wie er vorgeht. Er hätte allein zu den Eltern fahren können, aber er ist der Inszenierung wegen mit den beiden gekommen. Er zeigt auch, dass er, nur weil er eine Schnellfeuerwaffe trägt, nicht auch wie ein Dichter sprechen kann. Er nutzt also das Wort als ein Werkzeug der Manipulation. Soulayed drückt sich sehr gut aus. Er besitzt die Kunst des gesprochenen Wortes und er zitiert Dichter, eine andere Form der Manipulation, denn diese wenig kulturell gebildeten Leute sind davon sehr beeindruckt.
Ihr Roman bekam viel Aufmerksamkeit in Québec. Sie haben 2014 für ihn einige Preise erhalten wie den Prix des libraires du Québec und den Prix littéraire des enseignants AQPF-ANEL und Sie waren für den Prix du Gouverneur général nominiert. Sie haben auch einige Theaterstücke geschrieben, von denen einige u.a. auch ins Deutsche übersetzt sind und Sie waren auch schon in Deutschland.
Larry Tremblay: Ich war 2014 in München, weil zwei meiner Stücke dort auf Deutsch vorgetragen wurden, zum einen Cantate de guerre, Kriegskantate, und zum anderen Die Geschichte eines Herzens, das im Oktober 2014 an der Studiobühne der Universität München inszeniert wurde. Ich glaube aktuell gibt es von mir sieben oder acht Stücke auf Deutsch. Mein Stück Abraham Lincoln va au théâtre, auf Deutsch Abraham Lincoln geht ins Theater, war sehr erfolgreich hier in Québec und wurde vor zwei, drei Jahren in Freiburg am Theater der Immoralisten aufgeführt. Meine Karriere in Deutschland steht noch am Anfang, entwickelt sich aber so langsam.
Zum Abschluss möchte ich gern wissen, welche Bücher der Québecer Literatur Sie aktuell lesen.
Larry Tremblay: Ich habe den Gedichtband Outre nuit von Benoît Jutras gelesen. Gelesen und sehr gemocht habe ich den Band Révolutions von Nicolas Dickner und Dominique Fortier, erschienen bei Alto. Es ist ein spezielles Projekt, für das sie den französischen Revolutionskalender wiederaufgenommen haben. Für jeden Tag der Revolution gab es ein Wort, zu dem sie einen Text verfassten.
Ich lese viele Theaterstücke, auch von jungen Autoren, weil ich Mitglied einer Jury bin. Ich habe das Stück Des champs pétrofifères von Guillaume Lagarde gelesen, Stücke von Guillaume Corbeil und Sébastien David, Geneviève Billette, Carole Fréchette und Fançois Chambaud sowie Michel Marc Bouchard und sein neues Stück La Reine Christine.
Die letzten Romane, die ich gelesen habe, waren Je suis là von Christine Eddie, Le feu de mon père von Michael Délisle, Pourquoi Bologne von Alain Farah und die Trilogie 1984 von Éric Plamondon.