Auf der diesjährigen Buchmesse in Paris wurde Biz der Prix France-Québec für seinen Roman Mort-Terrain übergeben. In den Tagen zuvor war er bereits in Deutschland und Schweden, um sein Buch vorzustellen. Biz, den man in Québec als Rapper von den Loco Locass kennt, veröffentlichte 2010 seinen Debütroman Dérives. Mit La chute de Sparte folgte ein weiterer Roman und aktuell ist nach Mort-Terrain sein vierter Roman Naufrage erschienen. Dabei stehen die Romane nicht für sich allein, sondern verweisen aufeinander, wie mir Biz während unseres Interviews in Bremen erklärte. Wir sprachen auch über die Legende des Wendigo, die Grundlage für seinen ausgezeichneten Roman Mort-Terrain war, über Biz’ Zugang zu den Worten, über die Beziehungen zu den Ureinwohnern und über das Buch, das Biz mit auf eine einsame Insel mitnehmen würde.
Welche Verbindung hast du zum Schreiben und zum Umgang mit den Worten?
Biz: Die Verbindung geht sehr weit in meine Kindheit zurück. Für mich geht das Schreiben Hand in Hand mit dem Lesen. Meine erste Erinnerung an das Lesen führt zurück, als ich ungefähr fünf Jahre alt war. In dem Alter beginnt man die ersten Worte zu lesen. Damals las meine Mutter mir und meinem Bruder jeden Abend Geschichten vor. Unsere Lieblingsgeschichte war La chèvre de Monsieur Seguin (Die Ziege des Monsieur Seguin) und so wollten wir immer wieder, dass sie sie uns vorliest. Seitdem ich selbst Kinder habe und sie von mir immer wieder dieselben Geschichten hören wollen, während ich sie selbst nicht mehr hören kann, weiß ich, wie nervig das sein kann. Meine Mutter änderte deshalb immer mal wieder Worte in der Geschichte, was wir dann irgendwann mitbekommen haben. Als ich ihr sagte, dass sie ein Wort weggelassen hatte, legte sie das Buch auf ihre Knie und sagte zu mir, dass ich nun so weit sei, selbst zu lesen. Ich sah darin meine eigene Freiheit und Unabhängigkeit, denn ab dem Moment, ab dem man selbst lesen kann, hat man Zugang zum Wissen der Menschheit ohne dass es von Journalisten, Lehrern oder Eltern gefiltert wird.
Mit acht Jahren schrieb ich dann mein erstes Buch über die Ursprünge und das Leben der Dinosaurier mit eigenen Zeichnungen. Es war etwa acht Seiten stark. Mein Vater hatte die Seiten kopiert und gebunden, so dass ich es zu Weihnachten an meine Verwandten für einen Dollar verkaufen konnte. Es war mein erstes Geld, das ich als Autor verdiente. Meine Mutter hat noch heute ein Exemplar davon. In der Schule schrieb ich meine ersten Gedichte. Ich las damals Charles Baudelaire und interessierte mich für die feste Form des Sonetts. Später schrieb ich einen schlechten, fantastischen Mittelalterroman, an dem ich einen Sommer lang arbeitete. Jeden Tag schrieb ich mindestens eine Seite, am Ende kam ich auf 115 Seiten. Es war eine Drachengeschichte à la Game of Thrones vor seiner Zeit. Meine Kurzgeschichten wurden in Schülerzeitungen veröffentlicht.
Als ich an der Universität war und meine Abschlussarbeit schreiben sollte, begann ich mit dem Rap und entschied mich dafür, damit weiterzumachen und das Studium nach hinten zu verschieben. Wenn ich alt bin, kann ich immer noch einen Doktor an der Universität machen, aber nicht mehr rappen. Ich nutzte also die Gelegenheit, die sich mir bot und ging das Risiko ein, Rap zu machen. Die Worte, die Gesprächskunst und die Mündlichkeit, die ich mit dem Rap entwickelt habe, stellen meine Verbindung zur Welt dar. Dies geschieht, egal ob als Leser oder Autor, geschrieben oder gesprochen, immer über das Wort.
Dein Roman Mort-Terrain beginnt mit einer Szene, in der John Smith eingeführt wird. Er arbeitet für ein Minenunternehmen, das vor einem neuen Projekt steht. Nach einem Treffen mit den Funktionären ist er allein in seinem Hotelzimmer mit zahlreichen Fleischgerichten vor sich. Er verschlingt sie mit seinem lippenlosen Mund. Du assoziierst ihn mit einem Reptil und insgesamt wirkt er sehr unsympathisch. Er hat etwas Mythisches, was so seinen Platz in deinem Roman bekommt, etwa in der Erzählung des Wendigo. Erzähl mir mehr über diese Kreatur!
Biz: Der Wendigo ist eine Kreatur aus der indigenen Mythologie, dessen europäisches Pendant der Butzemann ist. Vor 400 Jahren gelangten der Teufel, der Butzemann und die Vampire durch Samuel de Champlain von Europa nach Québec. Die Figur des Wendigo ist bei mehreren indigenen Gemeinschaften in Nordamerika zu finden. Die Mythologien dienen dazu, die Welt zu erklären und besser zu verstehen. Die Gemeinschaften, die durch den harten und langen Winter mussten, durchlebten Hungerperioden, von denen Champlain in seinen Reisebüchern berichtete, als er über den Sankt-Lorenz-Strom in Tadoussac ankam. Dort sprangen die Indigenen, nachdem sie den Winter über kaum gegessen haben und sehr abgemagert waren, ins Wasser, um Essen zu bekommen. Sie gaben ihnen Brot. Während des schwierigen Winters verhungerten oft die Menschen. Um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig aßen – denn eine Gesellschaft, in der man sich gegenseitig verspeist, wächst nicht und Kannibalismus ist für eine Gesellschaft ungesund -, erzählte man sich die Geschichte des Wendigo. Er ist eine übernatürliche Kreatur, ein großes Skelett, das sich von menschlichem Fleisch ernährt. In nahezu allen Kulturen wird dem menschlichen Fleisch magische Kraft zugesprochen. Der Wendigo kann menschliche Stimmen nachahmen. Wenn man sich also im Wald verirrt, fern von seinen Freunden ist und sie dennoch nach sich rufen hört, dann ist es der Wendigo, der ihre Stimmen imitiert. Der Wendigo ist eine unheilvolle, myhtische Kreatur und gleicht in der indigenen Kultur dem Teufel, der jedoch dem Kannibalismus entstammt. Er ernährt sich von Menschenfleisch und sein Appetit ist unersättlich. Je mehr er ißt, desto mehr Hunger bekommt er und je mehr Hunger er hat, desto mehr will er essen, nimmt zu und wird stärker.
Ich fand die Parallele zwischen dieser Legende und dem Minenunternehmen interessant, denn die Ausrichtung der Unternehmen auf den Profit gleicht dem unstillbaren Appetit des Wendigo. John Smith ist der Wendigo in Menschengestalt. Nach einem Treffen mit den Funktionären seiner Firma in Toronto zeigen die Berichte, dass die Gewinne gestiegen sind und auch im nächsten Jahr weiter steigen werden. In seinem Hotelzimmer sieht man ihn essen, immer mehr und mehr, so wie die Profite steigen.
Wenn ein Minenunternehmen an einem Ort eintrifft, dann scheiden sich die Geister. Es gibt einerseits die Unterstützer des Projekts und andererseits die Gegner. Beide Seiten steigern sich in ihre Positionen rein, schaukeln sich gegenseitig hoch, so dass sie sich fast gegenseitig fressen. Auch hier zeigt sich wieder die Legende. Wenn eine Firma Erz in einer Region entdeckt hat, verspricht sie, nach dem Abbau die Landschaft wieder herzustellen, aber das ist nur selten der Fall. In Québec geschieht es oft, dass sie danach einfach verschwinden, den Namen ändern und dann ein neues Projekt angehen. Sie sind wie magische Kreaturen, die einfach im Wald verschwinden. Auch wenn du ihnen folgst, wirst du sie nie erwischen.
Während John Smith sich langsam Mort-Terrain nähert, ist Julien Daigneault gerade dabei, anzukommen. Er ist ein junger Arzt aus Montréal, der dort ein Praktikum macht. Allerdings ist er gleich bei seiner Ankunft in einen Unfall verwickelt: Auf der Höhe des Ortseingangsschilds fährt er ein Reh an. Das Reh stirbt, sein Auto ist fahrunfähig und muss repariert werden. Er bleibt unverletzt. Sind das nicht schlechte Vorzeichen für seine bevorstehende Zeit in Mort-Terrain?
Biz: Zum einen dachte ich daran. Zum anderen zeigt sich in diesem Moment, wie drei Kulturen aufeinandertreffen. Julien verkörpert die städtische Kultur Montréals. Er könnte genauso gut ein Städter aus Berlin sein. Er ist jung und modern und trifft auf die ländliche Kultur eines kleinen Orts. Auch wenn er noch im selben Land ist, gibt es den Schock der Kulturen zwischen Stadt und Land. Dazu kommt als Drittes die Kultur der Ureinwohner. Dieses Aufeinandertreffen kommt einem richtigen Aufprall gleich. Die Ankunft Juliens in Mort-Terrain ist ein Schock. Als Montréaler entgleiten ihm dort all seine gewohnten Umgangsformen. Zudem ist er Vegetarier, der nun von Leuten umgeben ist, die viel Fleisch verzehren, weil sie Jäger sind.
Ich dachte schon an Vorzeichen für diese Szene. Er ist durch das Ortseingangsschild abgelenkt, denn es enthält einen Rechtschreibfehler. „Misons notre avenir“ ist im Französischen nicht möglich. Es müsste heißen „Misons sur notre avenir.“ Dieses Schild, auf dem „Misons notre avenir“ steht, habe ich genau so in einem Dorf in Abitibi gesehen.
Ich habe viel für das Buch recherchiert und als mir ein befreundeter Jäger sagte, dass es auf dieser Höhe in Québec keine Rehe gibt, sondern nur Karibus und Elche, die sich in ihrer Größe sehr unterscheiden, hätte das bedeutet, dass Julien beim Unfall mit einem Elch stirbt. Und wenn er stirbt, gäbe es keine Fortsetzung. Also rief ich beim zuständigen Ministerium an und erklärte, dass ich ein Buch schreibe, in dem die Handlung in jener Region spielt und fragte, ob es dort Rehe gibt. Dort antwortete man mir, dass die Rehe aufgrund der Klimaerwärmung auch weiter im Norden vorkommen und dass seit zwei Jahren Rehe in der Nähe des Mistaouacsees gesichtet wurden. Der Mistaouacsee befindet sich genau da, wo ich Mort-Terrain entstehen ließ. Ich war sehr froh über diese Nachricht, denn so konnte ich an dem Roman weiterarbeiten.
Gibt es denn Beispiele von Orten in Québec, wo das Zusammenleben zwischen den Ureinwohnern und den Weißen funktioniert?
Biz: Es gibt gute und schlechte Beispiele. Samian z.B., der ein algonkinischer Rapper ist, mit dem wir für den Song „La paix des braves“ zusammengearbeitet haben, kommt aus dem Reservat Pikogan. Es liegt in der Nähe der Kleinstadt Amos in Abitibi. Dort sind die Beziehungen zwischen den Weißen und den indigenen Menschen ganz gut. Weiter im Norden sind die Beziehungen z.B. zu den Inuit weniger gut. In den letzten Jahren beschäftigt Québec das Thema zunehmend und es gibt Indigene, die sich wieder mit den Weißen anfreunden. Das ist gut, denn bevor die Engländer landeten, herrschten gute Beziehungen zwischen den Indigenen und den Franzosen. Als Samuel de Champlain damals in Amerika landete, wollte er nicht wie die Engländer und die Spanier weiter im Süden des Landes die Ureinwohner ausrotten. Sein Plan war es, mit ihnen zusammenzuleben. Die Gründung von Neufrankreich basiert also auf dem Zusammenleben mit den Ureinwohnern. Als Neufrankreich dann von den Briten erobert wurde, wurden die Kontakte komplett unterbrochen, weil die Briten sich nicht mischen wollten, weder mit den Franzosen noch mit den Indianern. Québec als Kolonie unter britischer Kontrolle entwickelte also schlechte Beziehungen zu den Ureinwohnern, die zuvor gut waren. Wir befinden uns gerade in dem Prozess, wieder zu diesen ursprünglich guten Verhältnissen zurückzukehren. Vor allem die jungen Leute sind dazu bereit.
Es gibt elf indigene Stämme in Québec mit rund 100 000 Angehörigen. Das macht in etwa 1 % der Bevölkerung Québecs aus. Sie sind auf einer riesigen Fläche verteilt und leben nicht in Städten. In der Nähe von Québec gibt es ein Dorf der Huronen namens Wendake. Vorher lebten die Huronen in der Gegend der Großen Seen in Ontario. Sie wurden von den Irokesen verjagt. Als sogenannte politische Flüchtlinge nahm Champlain sie in Québec auf und untereinander herrschte ein gutes Klima. Es ist kein Reservat mit Tipis, sondern sehr städtisch. Es gibt Häuser und eine Marktwirtschaft. Man merkt gar nicht, wann man das Reservat betritt und wann man es wieder verlässt. Weiter nördlich, in Kitcisakik bei den Algonkin und den Cri, merkt man hingegen, wann man ins Reservat kommt.
In dem Ort Mort-Terrain gibt es eine hohe Arbeitslosenquote. Es ist ein Dorf, das von seinen Bodenschätzen und vom Wald lebt. Die Anwohner arbeiten in Werkstätten, im Dienstleistungssektor und es gibt auch Gewerkschafter …
Biz: …wie Stéphane Bureau. Die Dörfer im Norden existieren dank der natürlichen Ressourcen, hauptsächlich wegen den Minen und den Wäldern. Würde es keinen Bergbau und keine Waldarbeit mehr geben, gäbe es auch keine Dörfer mehr, denn sie wären ihrer Existenzgrundlage beraubt. Das sagt auch Bureau, der argumentiert, dass nicht alle in Montréal leben können. In Montréal und auch bei den Indigenen, die motorisierte Schlitten haben wollen, wird Metall gebraucht. Und Metall muss aus dem Boden gewonnen werden. Ich sehe das genauso. Im Montréaler Stadtteil Plateau Mont-Royal herrscht unter den linken Umweltaktivisten eine gewisse Heuchelei, wenn sie einerseits sagen, dass die Minen schlecht sind und sie andererseits ihre Nachrichten per iPhone oder mit anderen technischen Geräten verbreiten, die dank des Abbaus natürlicher Ressourcen existieren. Bureau sagt, dass sie die Mine in Mort-Terrain wollen, damit sie weiter dort wohnen können. Die Dringlichkeit zeigt sich auch in der persönlichen Geschichte von seinem Freund Sauvageau. Sein Name enthält übrigens den Begriff „sauvage“, mit dem man die Indigenen bezeichnet. Der Begriff kommt vom lateinischen Wort silvicatus, was „Anwohner des Waldes“ bedeutet. Es ist zwar beleidigend, die Indigenen so zu nennen, der etymologischen Wortbedeutung nach ist es allerdings wahr, denn sie bewohnen ja den Wald. Sylvain Sauvageau leidet an Depressionen. Er hat keine Arbeit und kein Geld mehr und ein Kind, das schwer behindert ist und das teure Behandlungen in Montréal braucht. Das Minenprojekt liegt ihm also aus ganz persönlichen Gründen am Herzen. So entstehen die beiden Fronten, hinter denen menschliche Schicksale stehen. Ich als Autor wollte da keine Stellung beziehen. Ich wollte beschreiben, was geschieht, wenn ein Minenunternehmen an einen Ort kommt.
Nicht Stellung zu beziehen ist auch die Absicht, die Julien hat, als er in Mort-Terrain ankommt. Er vertritt die Meinung, er sei der Arzt für alle Anwohner gleichermaßen. Lange versucht er, keine Seite zu bevorzugen. Er nähert sich allerdings den Leuten im Reservat an und freundet sich mit Jim Papati an, dessen Mutter eine Algonkin und dessen Vater ein Ire war.
Biz: Julien hört in Erzählungen, wie die Weißen immer neben den Indigenen lebten. Der Geist der indigenen Menschen, das war wirklich jemand, der am Straßenrand zurückgelassen wurde und starb. Man schert sich nicht um die Indigenen. Sie kümmern sich um ihre eigenen Sachen. Wahrscheinlich wurde er von einem Weißen angefahren. Und was symbolisiert im Grunde der Geist? Die Schuld, die die Weißen durch ihr Verhältnis zu den Indigenen auf sich geladen haben. Diese Schuld sucht sie heim. Julien kommt jedoch von außen und sieht sie als Menschen so wie er selbst. Er lässt niemanden sterben, ohne alles versucht zu haben und er benachrichtigt die Familien. Er geht einen Schritt auf sie zu und das kommt bei ihrer Gemeinschaft gut an. Es ist das erste Mal, dass sich ein Weißer für sie interessiert. Und Jim der Métis – per Definition ist der Métis genau an der Grenze zwischen zwei Welten – führt ihn in die indigene Kultur ein und bringt ihn so ins Schwanken. Er führt Julien zu einem Gesinnungswechsel und sagt zu ihm: Du kannst nicht sagen, dass du dich nicht bewegst, wenn sich die Welt dreht. Du kannst nicht sagen, dass du keine Position beziehst, wenn alles um dich herum in Aufruhr ist. Folglich muss er eine Entscheidung treffen. Und diese Entscheidung trifft er auf der Grundlage der Gesundheit. Als Arzt kann er nicht vertreten, dass die Minen eine gute Sache sind, denn für die Gesundheit sind sie schlecht. Zu seiner Entscheidung wird er also gewissermaßen gezwungen und sie wird ihn von der Hälfte der Anwohner Mort-Terrains entfernen.
Es gibt den Moment, in dem er sich an seine Schulzeit in Montréal erinnert, als er den Studenten Steeve trifft. Steeve ist ein Protagonist aus einem deiner anderen Romane mit dem Titel La chute de Sparte.
Biz: Ich fand die Idee gut, so auf eines meiner vorhergehenden Bücher zu verweisen. Es ist mir gelungen, weil die Mutter von Steeve die Schwester von dem Automechaniker Ti-Nouche ist. Als ich damals La chute de Sparte schrieb, wusste ich das noch nicht, denn die Geschichte von Mort-Terrain hatte ich da noch nicht im Kopf. Aber dann fand ich die Idee gut, die Verbindung auf diese Weise herzustellen. Wenn der Leser das nicht merkt, ist das nicht weiter wild. Es dient dazu, dass Julien sich daran erinnert, wie sein Leben vor Mort-Terrain war, als er noch in Montréal lebte. Und weil sie auf dieselbe Schule gegangen sind, kann er sich daran erinnern.
Am Ende von La chute de Sparte hat Steeve was mit einem Mädchen am Laufen und in Mort-Terrain erfährt man dann, dass die beiden noch zusammen sind. Und man erfährt, dass er während des Studentenstreiks in seiner Schule involviert war, denn er ist ein Jugendlicher mit großem Mund und Verantwortungsbewusstsein, der Stellung bezieht. Während des Printemps érable wäre er mit Sicherheit bis zum Ende gegangen.
Dieser Verweis auf den Roman ermöglichte es mir, dass Julien sich daran erinnert, dass es gut ist, die Indigenen zu mögen und dass er froh sein kann, den Job in Mort-Terrain zu haben, aber dennoch ist er weit weg von seinem zu Hause.
Neben den Gesprächen mit Jim und Steeve gibt es weitere Dialogszenen im Buch. Wie wichtig war es dir, die Umgangssprache und Anglizismen einzubauen?
Biz: Ich bin der Meinung, dass man bei Dialogen so nah am Original sein sollte wie möglich. Natürlich wird die Lektüre jemandem, dem das Québécois mit seinen Schimpfwörtern und Anglizismen nicht geläufig ist, schwieriger fallen. Dennoch finde ich es wichtig, dass die Figuren so reden, wie sie eben reden.
Seitdem ich meine Bücher auch als Drehbücher umsetze – La chute de Sparte und Mort-Terrain – ist mir aufgefallen, dass man beim Film noch mehr darauf achtet, dass die Dialoge echt wirken. Alle meine Dialogszenen schreibe ich, indem ich sie mir laut vorspreche. Ich wiederhole sie, um zu sehen, ob die Wörter passen und ich achte sehr auf die Mündlichkeit.
Denkst du dir alle Dialoge aus oder schnappst du manchmal Gespräche auf, die du dann verwendest?
Biz: Manchmal. Der Witz zu Beginn des Romans über den Vegetarier, in dem es heißt, ein Vegetarier ist ein schlechter Jäger, den habe ich von einem Jäger in Abitibi. Ich denke mir weniger aus, als dass ich Dinge um mich herum aufschnappe und sie dann zusammenfüge. Als Jim und Julien gemeinsam zum Friedhof fahren, fragt Julien: Soll ich aus dem Boot aussteigen und dir dabei helfen es festzumachen? Jim antwortet: Schon zu viele Weiße sind auf unserem Land ausgestiegen, bleib lieber im Boot. Dasselbe hat Samians Onkel zu mir gesagt, als wir zusammen in Abitibi waren. Natürlich haben wir darüber gelacht und ich habe es im Roman aufgenommen. Ich bin sehr neugierig und habe gute Ohren und Augen. Wer weiß, vielleicht finden sich Menschen aus Bremen in meinem nächsten Roman wieder.
Vor Kurzem ist dein vierter Roman erschienen. Worum geht es in Naufrage?
Biz: Der Roman knüpft an meinen ersten Roman Dérives an. Dérives ist ein kurzer Roman in Form einer Autofiktion, der in die Welt des Vaterseins führt. Naufrage ist eine Familientragödie. Es ist also eine ganz andere Geschichte als in Mort-Terrain mit seinen übernatürlichen Kreaturen. Es ist ein Drama, in dem es um Schuld und um Verzeihung geht. Der Roman hat im Internet viele Kommentare erhalten. Viele haben geschrieben, dass sie weinten, als sie das Buch lasen. Nachdem es im ersten Roman darum ging, vom Kurs abzukommen, erleidet das Schiff nun Schiffbruch und die Familie bricht komplett auseinander.
Als Preisträger des Prix France-Québec bist du in Europa unterwegs. Der Preis wurde dir am 16. März 2016 auf der Buchmesse in Paris überreicht. Welche Bedeutung hat diese Auszeichnung für dich?
Biz: Es ist mir eine große Ehre. Ich erhielt bereits Auszeichnungen für La chute de Sparte in Québec. Bei dieser Auszeichnung gibt es allerdings zwei Dinge, auf die ich besonders stolz bin: Erstens ist es ein Preis, der von Lesern vergeben wird. Es sind nahezu 800 Leute aus ganz Frankreich, die aus drei Romanen aus Québec meinen Roman als besten gewählt haben. Es ist also kein politischer Preis oder ein Preis, den ich bekommen habe, weil mein Verleger jemanden kennt. Zweitens muss ich mich in Québec als Autor von mir als Rapper lösen, denn ich bin dort vor allem als Rapper bekannt. In Frankreich ist es andersherum. Kaum jemand kennt mich dort als Rapper und sie nehmen mich als jemanden wahr, der ein Buch geschrieben hat und sie mögen dieses Buch. Das hat mich sehr berührt. Auch weil Menschen außerhalb von Québec in dem Buch Lesenwertes entdecken, während ich so sehr auf Québec konzentriert war, als ich es schrieb.
Julien hat einen großen beigen Koffer mit nach Mort-Terrain genommen und ich habe mich gefragt, welche Bücher da wohl drin sein könnten neben La flore laurentienne von Marie Victorin.
Biz: Ganz sicher Bücher von Michel Houellebecq, meinem Lieblingsautor. Es steht im Buch nicht geschrieben, aber man kann sich daraus einen Spaß machen. Er hat bestimmt das Buch Cowboys von Louis Hamelin dadrin. Dieses Buch hat mich zu Mort-Terrain inspiriert. Sein Stil ist außergewöhnlich. Ich bin mir sicher, dass Julien dieses Buch mitgenommen hat, um sich ein wenig vorzubereiten. Was könnte noch im Koffer sein … Ganz sicher Gaston Miron, der große Dichter Québecs, vielleicht auch ein Buch von Nietzsche, z.B. Le gai savoir und eins von Cyrano de Bergerac. Bestimmt Les fleurs du mal. Und On the road von Jacques Kerouac. Er hätte bestimmt auch den Comic Maus dabei und vielleicht einige Gaston Lagaffe Comics, ein vegetarisches Kochbuch und Le rêve de Champlain. Das ist eine Biographie über Samuel de Champlain, dem Vater Neufrankreichs, die vor Kurzem von einem amerikanischen Historiker geschrieben wurde. Ich habe sie gelesen und war fasziniert. Das ist wohl alles. Vielleicht auch noch ein paar alte Playboys.
Sehr durchmischt. Und welche Bücher aus Québec würdest du zur Lektüre empfehlen?
Biz: Als erstes empfehle ich Vamp von Christian Mistral. Es ist ein tolles Buch, das nach seinem Erscheinen in den 1980ern die neue Generation der Québecer Literatur ankündigte. Ein absolutes Muss ist auch L’homme rapaillé von Gaston Miron. Dann empfehle ich ein soziologisches Essay mit dem Titel Raisons communes von Fernand Dumont. Er ist der größte Soziologe Québecs, der die Gründe für ein gemeinsames Zusammenleben in Québec untersucht hat. Und La flore laurentienne von Marie Victorin. Es ist ein Botanikbuch, das eine nahezu komplette Auflistung der Flora in Québec bietet und dazu in einer wunderbaren Sprache verfasst ist. Wer Québec entdecken möchte, sollte von der Basis ausgehen, also dem Land. Es ist ein sehr umfangreiches Buch, das 100 $ kostet, aber es hat mir sehr geholfen, als ich Mort-Terrain schrieb. Als mir mein Verleger sagte, dass man noch nicht fühle, dass es in Abitibi spielt, war mir klar, dass ich Flora und Fauna integrieren musste. Ich fügte Tiere und Pflanzen ein. Die, die dort wuchsen, fand ich in La flore laurentienne. Ich tat es Julien gleich, der sich sagte: ich gehe in eine andere Gegend und ich werde mich darüber informieren. Ich wurde einmal gefragt, welches Buch ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde und meine Antwort war La flore laurentienne, denn damit kann ich mir Québec in Erinnerung rufen.