Wie entdeckt man eine Literatur am anderen Ende des Atlantiks und entscheidet dann, diese für den deutschen Leser zugänglich zu machen? Andreas Jandl weiß darauf Antworten zu nennen. Über das Studium der Theaterwissenschaften an der Universität von Québec in Montréal bekam er Zugang zu vielen zeitgenössischen Theaterstücken, die ihn so in den Bann nahmen, dass er sie auch in Deutschland vorstellen wollte. Aus dieser Motivation heraus präsentierte er ein erstes übersetztes Theaterstück von Daniel Danis dem S. Fischer Theaterverlag, mit Erfolg. In den folgenden Jahren hat er zahlreiche Theaterstücke aus Québec ins Deutsche übersetzt und später auch Romane von Nicolas Dickner, Marie-Renée Lavoie, Pierre Szalowski, Nicolas Langelier und Gaétan Soucy. Bei einigen Übersetzungen arbeitet er mit seinem Kollegen Frank Sievers zusammen. Wie solch eine Zusammenarbeit funktioniert und wie sie sich bei den Romanen L’acquittement und L’immaculée conception von Gaétan Soucy gestaltet hat, der am 9. Juli 2013 verstorben ist, verriet der Übersetzer in einem Interview.
Wie bist du auf die Québecer Literatur aufmerksam geworden?
Andreas: Durch das Studieren in Québec. Ich habe an der UQAM Theaterwissenschaften studiert und habe dort im Rahmen des Studiums Theaterstücke kennen gelernt. Durch einen sehr glücklichen Zufall habe ich von meinen Mitbewohner auch sehr viel über die Québecer Literatur erfahren.
Wann war für dich klar, dass du diese Texte ins Deutsche übersetzen möchtest?
Andreas: Das wurde mir zu Beginn meines Studiums in Montréal klar. Ich hatte mich für das Studentenvisum allerdings mit einem anderen Projekt beworben und ich war mir nicht sicher, ob ich davon noch abweichen könnte. Es gab ein Theaterstück, das mir damals sehr gefallen hat: Les oranges sont vertes von Claude Gauvreau. Er war einer der Mitunterzeichner des Refus global. Dazu gab es aus deutscher Perspektive viel Interessantes über Québec herauszufinden, und auch das Stück hätte ich dann gerne übersetzt. Aber das Studienprojekt zu ändern, wäre sehr aufwendig gewesen. Also blieb ich bei meinem Vorhaben, die Magisterarbeit über Denis Marleau und sein Théâtre UBU zu schreiben. Auch sehr interessant. Und bei Marleaus dramaturgischer Arbeit ging es letztlich viel um Übersetzung, wenn auch aus dem Deutschen ins Französische, also in die andere Richtung.
Welche Kriterien, welche Texte oder welche Genres waren für dich ausschlaggebend, um selbst zu übersetzen?
Andreas: Die Entscheidung war für mich gefallen, als ich Theaterstücke sah, die mich derart begeisterten, dass ich sie unbedingt auf Deutsch vorstellen wollte. Woher dieser Wunsch genau kam, weiß ich nicht, aber ich wollte den Theaterzuschauern in Deutschland etwas zeigen, das sie nicht kennen, und das am besten gleich auf Deutsch.
Und wie kam das an?
Andreas: Ich hatte Glück. Als ich mich mit einem Übersetzungsvorhaben für ein Stück von Daniel Danis beim S. Fischer Theaterverlag meldete, waren die gerade neugierig und offen. Ich konnte das Projekt schnell unterbringen, was für mich aus dem Stand heraus ein großer Erfolg war. Und Folgeprojekte ergaben sich auch.
Ich hatte an der Uni in Montréal einen sehr interessanten Dramaturgiekurs. Daraus konnte ich lange schöpfen, vor allem aus den Theaterstücken, die meine Mitstudenten vorgeschlagen haben. Da war vieles dabei, das meinen Geschmack traf.
Neben den Theaterstücken hast du dann auch Romane anvisiert, an die dich ja dein Mitbewohner herangeführt hat. Gibt es Unterschiede beim Übersetzen von Theaterstücken und Prosatexten?
Andreas: Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied. Man sagt zwar immer, dass man beim Übersetzen von Theaterstücken kein fertiges Produkt abgibt, weil ja die Schauspieler, die Regie und alle anderen Schwesternkünste immer noch etwas dazu beitragen. Für das Übersetzen ist der Unterschied letztlich nicht so groß. Man muss sparsamer sein und man muss Platz für Interpretationen lassen, aber in guten Romanen kann man das eben genauso anwenden. Die Dialoge sollte man ähnlich wie fürs Theater übersetzen und auch Platz lassen. Oft charakterisieren sich die Figuren ja über ihre Sprache, und das sollte im Roman genauso sein wie beim Theaterstück.
War es dann eine leichte Entscheidung, auch Romane zu übersetzen und welchen Roman aus Québec hast du dir dafür als erstes ausgesucht?
Andreas: Zunächst war ich frustriert, dass Theaterstücke im Deutschen nur sehr selten in den Buchhandel kommen. Wenn man nur Stücke übersetzt hat, ist das schade. Es gibt zwar Aufführungen und auch Hörspielproduktionen, was sehr schön ist, aber die Übersetzung als Objekt in den Händen zu halten, das hätte ich mir gewünscht.
Auch da gab es wieder einen glücklichen Zufall: Ich war in einer Übersetzerwerkstatt, in der ich Theaterstücke überarbeitet habe. Einer der Mentoren hatte mich bei Matthes & Seitz empfohlen und irgendwann bekam ich die Anfrage für eine Probeübersetzung. Schon damals hatte ich die Idee, im Team zu übersetzen, und zwar mit Frank Sievers zusammen, meinem Mitbewohner in Paris. Ich merke gerade, dass ich immer sehr viel von Mitbewohnern profitiert habe. Frank hatte Literaturübersetzung studiert und ich hatte vorher zwar schon viele Theaterstücke übersetzt, aber noch nie einen Roman. Wir haben uns für die Probeübersetzung richtig reingehangen. Letztlich haben wir den Auftrag aber doch nicht bekommen. Ganz daneben kann die Probe aber auch nicht gewesen sein, denn beim nächsten Québecer Autor hat der Verleger an uns gedacht. Es ging um Gaétan Soucy und seinen Roman L’acquittement. Wenn man sich jetzt vorstellt, zwei völligen Anfängern einen solchen Text anzuvertrauen, dann ist das eine tolle Herausforderung, aber auch ein großer Druck. Wir haben gelernt, zusammenzuarbeiten. Das lange Feilen an diesem sehr literarischen Text hat sich zu zweit als besonders zufriedenstellende Methode herausgestellt. Auch wenn man schon lange an einem Satz gebastelt hat, kann es gut sein, dass der Vorschlag, den der andere macht, noch besser passt.
Ist die Herausforderung bei einer Zusammenarbeit somit größer oder geringer?
Andreas: Man braucht mehr Zeit, die fertige Übersetzung ist dafür besser. Diese Methode ist sicher nur bei ausgesuchten Texten zu empfehlen. Denn man teilt das Honorar durch zwei, verdoppelt aber fast die Zeit, die man braucht. Am Ende liest es sich aber gut und das war für uns damals das Wichtigste.
Wie seid ihr dabei genau vorgegangen?
Andreas: Bei L’acquittement (Die Vergebung) hat jeder erst mal das erste Kapitel für sich übersetzt. Dann haben wir eine gemeinsame Version erstellt. Der Anfang war sozusagen das Einfinden in den Text und in die Zusammenarbeit. Die folgenden Kapitel haben wir dann abwechselnd übersetzt. Die Kapitel, die der andere übersetzt hat, wurden vom anderen gegengelesen. Das gestaltete sich damals noch recht sparsam, denn man wollte ja nicht zu viel am Text des anderen verändern. Beim nächsten Buch von Gaétan Soucy, bei L’immaculée conception (Die Unbefleckte Empfängnis), sind wir etwas anders vorgegangen: Wir haben das erste Kapitel gemeinsam vor einem Bildschirm übersetzt, Satz für Satz. Diese Methode hat noch viel länger gedauert, aber sie war zum Reinkommen viel besser. Wir wurden auch immer mutiger, was das gegenseitige Bearbeiten der übersetzten Kapitel anging.
Bleiben wir kurz bei den beiden Büchern von Gaétan Soucy. L’acquittement beginnt mit dem Satz „La catastrophe essentielle qui fonde la réalité du monde, c’est la mort inéluctable de ceux qu’on aime.“ Ins Deutsche übersetzt habt ihr das mit „Die grundlegende Katastrophe dieser Welt ist der unausweichliche Tod derer, die man liebt.“ Das ist ein sehr philosophischer Einstieg, nach dem dann die Geschichte einsetzt. Im Zentrum steht ein Mann, der an einen Ort zurückkehrt. Im nächsten Roman sind es mehrere Personen und es braucht viel mehr Seiten, auf denen deren Geschichte erzählt wird. Wie habt ihr euch den Büchern angenähert, um das Universum des Autors mit seinen besonderen Figuren zu übersetzen?
Andreas: Die Figuren von Soucy erkennt man ganz schnell wieder. Es sind gequälte Figuren, die andere und sich selbst quälen. Bei der Vergebung hatten wir das Glück, dass wir uns viel Zeit lassen und den Text nach dem ersten Durchlauf liegen lassen konnten. Erst dann haben wir ihn noch mal überarbeitet. Bei der letzten Probe hat Frank Sievers den Text vorgelesen, während ich mit dem Manuskript auf den Knien zugehört habe. Es war uns wichtig, dass der Schluss im Deutschen so wirkungsvoll ist, wie im Original. Und diese Wirkung haben wir im Selbsttest überprüft.
Die Vergebung ist ein sehr winterlicher und düsterer Roman, der auf dem Land in dem Ort Saint-Aldor spielt. Dorthin führt es die Hauptfigur, die durch das im Titel vorgegebene Thema geleitet wird.
Andreas: Es ist eine Geschichte, bei der man nicht genau weiß, worauf der Autor eigentlich hinaus will und was da eigentlich passiert. Ein Hilfsorganist fährt in dieses verschneite Saint-Aldor 20 Jahre, nachdem er dort als Musiklehrer gearbeitet hat. Der Leser könnte sich denken, dass er irgendwelche alten Rechnungen oder eine alte Schuld begleichen will. Er trifft tatsächlich Zwillinge, zwei Mädchen, die er damals unterrichtet hat. Er will sich von einer großen Schuld frei sprechen und um Vergebung bitten. Aber man versteht die Schuld nicht. Man versteht gar nicht, was damals eigentlich passiert ist. Dann merkt man, dass da ganz andere Sachen waren, dass er z.B. von einer Organistin, die in der Kirche von Saint-Aldor Orgel spielt, als ihr ehemaliger Liebhaber erkannt wird, der sie über Nacht verlassen hat. Er weiß das alles aber nicht mehr. Dann ist da ein Musikstück, das er in der Kirche hört und das er ganz aufrührend findet. Er weiß aber nicht, dass er es komponiert hat.
Was will er wirklich und warum betreibt er diesen Aufwand? Warum hat er so viel vergessen? Die Reise wird immer unwirklicher. Am Ende stellt sich außerdem die Frage, ob er von den Zwillingen hinters Licht geführt wurde oder nicht. Man weiß bei Soucy nicht, was wirklich wahr ist. Es gibt nur Hinweise, die man deuten muss, besser: die man deuten kann. Trotzdem bleibt nach der Lektüre ein ganz starker atmosphärischer Eindruck und Soucys Universum ist sehr lebendig, sehr dicht. Man kann sich alles sehr plastisch vorstellen. Und auch die Figuren kann man sich sehr gut vorstellen.
Das ist eigentlich eine Einladung, dieses Buch immer und immer wieder zu lesen und Dinge zu entdecken, die einem vorher vielleicht entgangen sind.
Andreas: Auch bei der Unbefleckten Empfängnis ging es uns so. Wir hatten das Buch gelesen, haben alles durchgearbeitet und beim Überarbeiten haben wir manchmal erst Zusammenhänge verstanden. Das ist schon beachtlich, dass man so weit gehen muss, um Zusammenhänge zu verstehen, die eigentlich für das Verständnis des Buches grundlegend sind.
Die Unbefleckte Empfängnis spielt in Montréal. Es gibt da z.B. eine Szene, in der Remouald Tremblay seinen Vater im Rollstuhl spazieren fährt.
Andreas: Man kann ihnen auf dem Stadtplan folgen, was wir tatsächlich gemacht haben. Wir sind die Stadtpläne im Kopf und auf dem Bildschirm abgefahren, um das alles nachzuvollziehen.
Ich fand das natürlich ganz toll. Nach dem Studium in Kanada war ich hin und weg. Ich wollte aber nicht auf zwei Kontinenten leben und ständig hin und her pendeln, wollte auch nicht alle Bande mit Deutschland brechen. Deswegen stand fest, dass ich wieder zurück gehe, auch wenn mein Herz an Montréal hing. Die Möglichkeit zu haben, sich so lange in einem Text aufzuhalten, der in Montréal spielt, und sich eine Zeit lang in diesem Universum zu bewegen, ist ein wunderbarer Ersatz. An der Unbefleckten Empfängnis haben wir circa fünf Monate gearbeitet.
Eine weitere Szene, die ich Erinnerung behalten habe, ist die mit dem Graffiti auf der Schulmauer, das dort Jahre überdauert. Diesem Graffiti wird viel Raum gegeben, ohne das dessen Ursprung genauer erklärt wird. Dieser Ursprung wurde in einem anderen Buch von Gaétan Soucy erzählt und zwar in Music-Hall!, seinem letztveröffentlichten Roman.
Andreas: Und dann gibt es noch ein Theaterstück und die Kurzgeschichte L’angoisse du héron. Es ist ein recht überschaubares Werk, das aber sehr dicht und schwer ist. Ich würde es so sehen, dass in seinem ersten Roman Die Unbefleckte Empfängnis alles angelegt ist, was sich später entwickelt hat. Seine Figuren sind in dieser reichhaltigen Welt wie Knospen, die sich irgendwann weiter entfalten, vielleicht ihr eigenes Buch bekommen. Heute wissen wir, dass dem nicht so ist, aber ich hatte es mir so vorgestellt.
Du hast nicht nur seine Bücher mit Frank Sievers gemeinsam übersetzt, die in Deutschland viel gelobt wurden, sondern hast den Autor auch das eine oder andere Mal persönlich getroffen.
Andreas: Den Autor treffen zu können war natürlich die Krönung von allem. Während wir damals noch an der Übersetzung von L’acquittement gearbeitet haben, bin ich im Winter nach Montréal geflogen. Ich hatte eine zwei Seiten lange Liste mit Fragen und habe beim Autor angefragt, ob wir die durchgehen können. Er hat zugestimmt. Es war großartig, von ihm erklärt zu bekommen, was er hier meint, was er da meint und auch die kulturellen Referenzen zu erfahren. Das nächste Treffen war auf dem Salon du livre in Paris. Da konnte ich sehen, dass er jemand war, der die Öffentlichkeit und den ganzen Trubel nicht so sehr mochte. In seinen eigenen vier Wänden war er ein ganz anderer. Ich traf ihn dann noch einmal bei ihm zu Hause in Montréal kurz vor seinem Tod. Da war er wieder der Private, der Offene. In Paris habe ihn als introvertiert wahrgenommen und denke, dass er sich nicht für die Hochglanzseite des Literaturbetriebs interessierte, wie seine Helden ja auch.
Neben den Romanen von Gaétan Soucy hast du auch andere Autoren aus Québec ins Deutsche übersetzt, die, wie du so schön sagtest, dich zurück nach Montréal führten, darunter Marie-Renée Lavoie, Nicolas Dickner …
Andreas: … und auch Nicolas Langelier. Auch sein Buch spielt in Montréal. Nach der Unbefleckten Empfängnis war der nächste Roman, den ich allein übersetzt habe, Nikolski von Nicolas Dickner. Darin reist man einmal durchs Land. Und zwei der Figuren sind in Montréal angesiedelt. Der eine arbeitet im Buchladen und die andere kommt in der Stadt an und beginnt in einem Fischgeschäft zu arbeiten. Man wird durch die Straßen geleitet und über den Marché Jean Talon mit seiner komplexen Geruchswelt. Im Kopf wird man wirklich durch Montréal geführt. Das ist toll. Auch sein neuester Roman, Six degrée de liberté, ist zu großen Teilen in Montréal und im Montréaler Umland angesiedelt. Den Roman übersetze ich gerade und er soll im Frühjahr 2017 veröffentlicht werden.
Inwiefern ist es hilfreich, dass du in Montréal gelebt hast?
Andreas: Es ist natürlich für die Sprache sehr hilfreich. Viele Sachen stehen so nicht im Wörterbuch. Es ist gut, sie zu kennen. Kulturelle Bezüge sind auch gut zu kennen. Wenn man dort ein Fenster aufmacht, ist es kein Flügelfenster, sondern ein Guillotine-Fenster. Das sollte man wissen. Wenn es plötzlich zufällt und sich jemand die Hand einklemmt, ist es beim einen wie beim anderen was anderes. Viele Sachen sind auch einfach so, dass sie mein Herz erwärmen, z.B. wenn irgendwelche Süßigkeiten beschrieben werden und ich mich erinnere, wie ich sie gegessen habe. Das kulturelle Hintergrundwissen ist oft nötig, um Fehlübersetzungen zu vermeiden.
Welche der Bücher aus dem Québecer Raum sind dir besonders in Erinnerung geblieben, die du auch gerne empfehlen möchtest?
Andreas: Da fange ich mit Michel Tremblay an und seiner Chronique du Plateau Mont-Royal, mit La grosse femme d’à côté est enceinte. Auch seine Theatertexte, z.B. Les belles sœurs, sind da zu nennen. Bei Marie-Renée Lavoie wird die Sicht einer jungen Frau, die in Québec (Stadt) lebt, auf das normale Leben einfacher Leute im Arbeiterviertel dargestellt: La petite et le vieux (Monsieur Roger und ich). Ich mag Bücher, in die man einfach so einsteigen kann und die dann in diese mythische Québecer Welt führen. Mich hat auch Nicolas Langelier mit seinen 25 Schritten, um die Moderne zu meistern beeindruckt. Sein Buch ist als Ratgeber verkleidet, ist aber ein Roman. L’avalé des avalées von Réjean Ducharme zählt auch zu den Büchern, die mich geprägt haben. Damals habe ich es für unübersetzbar gehalten, jetzt hat es Till Bardoux ins Deutsche übersetzt und gezeigt, dass es doch geht. Chercher le vent von Guillaume Vigneault habe ich auch sehr gemocht.