Interview mit Nicolas Dickner

28. August 2015 | nachgefragt

Six degrés de liberté ist der dritte Roman von Nicolas Dickner. Seine Romane Nikolski und Tarmac erschienen auch in der deutschen Übersetzung von Andreas Jandl bei der Frankfurter Verlagsanstalt 2009 und 2011 und als Taschenbuch bei btb 2011 und 2013. Der Autor, der selbst auch Übersetzungen vom Englischen ins Französische realisiert, interessiert sich in seinen Romanen für das Individuum im gesellschaftlichen Kontext. In Nikolski sind es die Geschichten von drei jungen Menschen, die auf dem Pfad der Selbstfindung sind, nachdem sie aus ihrem familiären Kontext ausgebrochen sind. Ihre Wege führten die drei Protagonisten nach Montréal. Tarmac erzählt von der außergewöhnlichen Familie Randall, in der jedes einzelne Mitglied im Laufe seines Lebens das Datum für den Weltuntergang erfährt und damit mehr oder weniger zurecht kommt. Oftmals endet das Leben eines Randall in einem tragischen Tod. Hope Randall kam eines Tages im Alter von 17 Jahren mit ihrer psychotischen Mutter in Rivière-du-Loup an, wo sie Freundschaft mit Mickey Bauermann schloss. Während in Europa der Kalte Krieg sein Ende fand, erfährt Hope das Datum für den Weltuntergang auf einer Packung einer asiatischen Nudelsuppe. Es dauert nicht lange und das Datum des Weltuntergangs begegnet ihr erneut in einer Werbeanzeige in einem Comicheft. Davon angestachelt tritt Hope eine Reise an, die sie erst nach Seattle und dann nach Tokyo führt, wo sie auf der Suche nach demjenigen ist, der den Weltuntergang für den 17.06.2001 vorhergesagt hat.
2015 erschien Six degrés de liberté beim Québecer Verlag Alto, ein Roman, in dem der Autor sich einem Thema zuwendet, das er literarisch einwandfrei verpackt hat. Vergangenen Sommer traf ich den Autor in dem Montréaler Café Oui mais non. Er blickte zurück auf sein Auslandsjahr in Bamberg 2002, verriet mir, wie er den Übergang vom Verfassen von Kurzgeschichten zum Genre Roman empfand, wie er in Berlin dem Verlauf der ehemaligen Mauer folgte und wie er zum Übersetzer wurde.

Du warst 2002 für längere Zeit in Deutschland und hast dort an deinem ersten Roman Nikolski geschrieben. Wie ist der Roman genau entstanden?

Nicolas: Ich habe ihn angefangen, als ich zwischen 2000 und 2001 in Peru war. Viele der Grundideen kommen aus meiner Zeit in Montréal, wo ich auch nach Peru am Roman weitergeschrieben habe. Auch in Québec (Stadt) habe ich daran gearbeitet. Doch den größten Teil des Romans schrieb ich Deutschland. Vieles in der Erzählung hatte sich in Deutschland dank des Aufenthalts im Künstlerhaus ergeben, für den ich mich beworben hatte. Einmal die Woche gab es dort ein Treffen aller Künstler, bei dem man vorstellte, woran man gerade arbeitete. Die Tatsache, den anderen sein Projekt erklären zu müssen und die Dinge verständlich rüberzubringen, war für mich eine sehr interessante Übung und half mir dabei, meine Gedanken zu strukturieren. Dies war ein sehr wichtiges Element in meinem Schreibprozess.

In welcher Stadt war das Künstlerhaus?

Nicolas: In Bamberg. Die Stadt ist in Deutschland nicht sehr bekannt, aber es gibt dort ein großes Künstlerhaus, die Villa Conordia. Sie bieten zwölf Künstlern Jahresaufenthalte an. Sie kommen aus den Bereichen der Musik, der Bildenden Kunst, der Literatur. Vor Ort herrschte ein außergewöhnliches Arbeitsklima. Die Stadt war ruhig und ich fand dort perfekte Arbeitsbedingungen. Das wäre vielleicht anders gewesen, wäre ich in einer größeren Stadt wie Berlin gewesen, in der es viel mehr zu tun gegeben hätte.

Wenn du damals nicht an deinem Roman geschrieben hast, bist du dann ein wenig durch Deutschland gereist?

Nicolas: Das Hauptziel dieser Reise war literarischer Natur. Was ich zudem machen wollte, war nach Dänemark zu reisen, um mir dort die Moorleichen anzuschauen. Es gab auch eine in einer kleinen Stadt im Norden von Schleswig-Holstein, die ich mir angesehen habe. Ansonsten schaute ich mir Köln, Berlin, Hamburg und Passau an.

Hast du ein wenig von der deutschen Literaturszene mitbekommen?

Nicolas: Nicht wirklich, weil ich ja kein Deutsch lesen kann. Das hat mich in meiner Suche nach den jungen Autoren eingeschränkt, die mich neben den bekannten Größen wie Günter Grass besonders interessieren. Die jungen Autoren sind meistens nicht übersetzt, was in den meisten Literaturszenen so ist. Demzufolge hatte ich nicht wirklich die Gelegenheit dazu.
In Bamberg war ich zum gleichen Moment wie Mariana Leky, deren erster Roman da noch nicht veröffentlicht war. Das war meine weiteste Annäherung an die neue deutsche Literaturszene.

Sind denn Erlebnisse deiner Zeit in Bamberg oder in Deutschland in deine Werke eingeflossen? In Tarmac verweist du z.B. auf den Fall der Berliner Mauer.

Nicolas: Dass ich den Fall der Mauer in Tarmac integriert habe, ist kein Resultat meines Aufenthalts in Deutschland. Wie alle großen geschichtlichen Ereignisse denke ich, dass der Mauerfall bis zu einem gewissen Punkt nicht nur den Deutschen gehört, sondern ein Ereignis ist, dass für die gesamte Zivilisation von großer Bedeutung ist. Bei solchen Dingen steht viel mehr auf dem Spiel. Hinter dem Fall der Mauer standen wichtige Fragen und der Kalte Krieg.
Es war weniger ausschlaggebend, dass ich in Deutschland war, sondern dass ich Teil einer Generation bin, die ihre Jugend zum Ende des Kalten Krieges erlebt hat. Als wir erwachsen wurden, veränderten sich die Dinge in unserer eigenen kleinen Welt und auch die Dinge in der ganzen Welt. In den 1990er Jahren gab es große Paradigmenwechsel, die in den darauffolgenden Jahren spürbar wurden.
Für mich zeigt sich das Ende des Kalten Krieges weniger im Fall der Mauer in Berlin – woran ich mich selbst kaum erinnere –, sondern in der Bombardierung von Bagdad. Darin zeigte sich das neue Interesse der Amerikaner, deren geopolitische Interessen nicht mehr dieselben waren. An die Bombardierung von Bagdad erinnere ich mich noch gut, während in den Geschichtsbüchern vor allem der Berliner Mauerfall als Wendepunkt dargestellt wird. Soweit meine persönliche Interpretation.

Bist du seit deinem Aufenthalt in Bamberg mal wieder nach Deutschland gereist?

Nicolas: Ich war vor einigen Jahren auf einem Literaturfest in München und bei der Gelegenheit bin ich auch nach Bamberg gereist.

Was hatte sich dort verändert?

Nicolas: Die Dinge ändern sich stetig. Es war für mich ja nicht nur ein Ort mit seinen Häusern, Cafés und Straßen, sondern ein Ort, an dem ich ein Jahr mit den Menschen verbracht habe, die zur gleichen Zeit dort waren und die es Jahre später nicht mehr waren. Der Ort war also nicht mehr der gleiche. Es war eine interessante Lektion der Nostalgie, wenn man so will: Wenn man an einen Ort zurückkehrt, an dem man eine sehr intensive Zeit gelebt hat und dann feststellt, dass das Durchlebte sich nicht noch einmal ereignen wird. Das führt uns unsere Sterblichkeit vor Augen.
Es war ein schönes, außergewöhnliches Jahr in Deutschland, nicht nur wegen der exzellenten Schreibbedingungen, die ich dort vorfand, sondern auch, weil ich das Land mochte. In dem Jahr freundete ich mich mit einem ungarischen Künstler an, sprach Spanisch, war mit Québecern zusammen usw. Es war ein Deutschland, das heute in der Form vielleicht nicht mehr existiert. In diesem Jahr haben wir uns einen eigenen imaginären Ort geschaffen.

Während meines Auslandsjahres in Montréal habe ich nicht nur in einer französischen Umgebung gelebt, sondern konnte auch mein Spanisch und mein Englisch verbessern. Zwischen der frankokanadischen Metropole und Berlin sind mir da auch viele Parallelen aufgefallen.

Nicolas: Ich denke, ich weiß, was du meinst. Ich erinnere mich an eines der letzten Wochenenden meines Auslandsjahres, das ich in Berlin verbracht habe. Es waren die ersten schönen Frühlingstage und es wurde langsam wärmer. Ich erinnere mich, dass die Leute ihre Sofas auf die Gehwege stellten und ich dachte gleich, ich könnte hier in Berlin leben. Es war wie in Montréal, wo die Leute rausgehen, sobald es ein wenig wärmer ist. Diese Extravaganz gibt es in beiden Städten.

Wie hat deine Karriere als Autor nach deinem Studium des Kreativen Schreibens begonnen? Und wie empfandest du den Übergang vom Schreiben von Kurzgeschichten zum Verfassen deines Romans Nikolski?

Nicolas: Eigentlich sehr schlecht. Es gestaltete sich kompliziert. Ich muss auch sagen, dass Nikolski bis zu einem gewissen Punkt ein Roman ist, der stark von einem Band mit Kurzgeschichten beeinflusst ist. Es gibt nicht nur drei voneinander unabhängige Erzählstränge, die sich nie wirklich kreuzen, sondern auch sehr große zeitliche Auslassungen zwischen den Kapiteln. Es gibt eine Art erzählerische Diskontinuität. Einige der Kapitel habe ich als eigenständige Texte geschrieben, als solche, die also einzeln gelesen werden können. Auf diese Art war es mir möglich, mich zwischen den beiden Genres zu bewegen. Das war auch noch bei Tarmac der Fall. In meinem letzten Roman, der in seiner Struktur beinah ein Krimi ist, ist es schwieriger geworden, einzelne Kapitel herauszunehmen und nur diese für sich zu lesen. Nikolski ist dagegen eine hybride Form zwischen Roman und Kurzgeschichte.

Als ich Nikolski las, erinnerte ich mich an meinen Aufenthalt in Montréal.

Nicolas: Montréal ist in dem Roman von großer Bedeutung. Es ist ein Roman, den ich so heutzutage nicht mehr schreiben könnte. Er vermittelt den Blick von jemandem, der gerade in der Stadt angekommen ist. Es gibt viele Dinge, die mir heute nicht mehr auffallen, weil ich nun schon viele Jahre hier wohne. Andererseits sehe ich heute Dinge, die mir damals nicht aufgefallen sind. Unsere Wahrnehmungsfilter verändern sich mit der Zeit. Der Filter von damals, als ich Montréal entdeckte, ist nicht mehr vorhanden.

In Tarmac beginnt die Geschichte in Québec, führt dann aber auch nach Japan. Ich bin gerade an der Stelle, an der Hope Randall am Hafen ist und beobachtet, wie ein Teil der Berliner Mauer aus einem Container entladen wird.

Nicolas: Ich interessiere mich schon seit Jahren für Container.

Im Centre de commerce mondial in Montréal ist ein Stück der Berliner Mauer aufgestellt.

Nicolas: Ich habe mir das einmal angeschaut. Ich war sehr enttäuscht, weil … Als ich 2002 in Berlin war, bin ich entlang der ehemaligen Mauer gelaufen. Als ich im Zentrum der Stadt ankam, ist der Verlauf mit Pflastersteinen markiert. Das ist für die Touristen, stellt aber nur einen kleinen Teil der ehemaligen Mauer dar. Ich bin dem ganzen Verlauf gefolgt, bis ganz in den Norden. Ich war an Orten, wo nichts markiert war. Alles, was 2002 von der Mauer übrig blieb – und was heute bestimmt anders ist – war braches Land. Als ich die Mauer nicht nur als Objekt sah, sondern in ihrem Kontext, war das sehr interessant. Wenn man dann einen Teil der Mauer sieht, der in einem kommerziellen Zentrum herumsteht, dann fehlt der Kontext.

Du hattest fünf Jahre lang eine Chronik bei der Kulturzeitung Voir. Du schreibst auch Bücher für Kinder. Deine Romane liegen in vielen Sprachen vor und du übersetzt auch selbst. Welche Besonderheiten oder Schwierigkeiten bringt die Arbeit als Übersetzer mit sich im Vergleich zum Verfassen eines Romans?

Nicolas: Ich habe zwei Romane von Andrew Kaufman, Autor aus Toronto, aus dem Englischen ins Französische übersetzt.
Ich hatte das Glück, einige der Übersetzer meiner Romane zu treffen und konnte an einem Treffen für Übersetzer teilnehmen, als Lazer Lederhendler, Übersetzer von Nikolski ins Englische, ein Übersetzungsstipendium erhalten hatte. Er arbeitete drei Wochen daran in Banff, Alberta und hatte mich für eine Woche dorthin eingeladen. Ich war dort von 20 Übersetzern umgeben, die sich über das Übersetzen und über Literatur austauschten. Es waren die besten ihres Metiers. Das Niveau war sehr hoch. Sie sind in der Übersetzung von einer Sprache in eine andere spezialisiert, aber sie sprechen drei oder vier Sprachen. Es ist dort nicht außergewöhnlich, wenn man Italienisch, Spanisch oder Deutsch spricht, sondern eher gewöhnlich.
Diese Konzentration von Kompetenzen an diesem Ort faszinierte mich. Es sind Leute, von denen kaum gesprochen wird und die sich unfair behandelt fühlen. Sie sind wichtige Künstler, die im Schatten arbeiten. Lange war ich von diesen Übersetzern eingeschüchtert. Ich habe großen Respekt für sie. Als ich dann gefragt wurde, ob ich eine Übersetzung machen würde, sagte ich, warum nicht. Aber mal ehrlich, ich war einer Übersetzung nicht wirklich gewachsen. Dennoch habe ich es gemacht; und bis jetzt sind es schon mehrere Bücher geworden. Wenn mir weitere Projekte angeboten werden, werde ich es machen, weil es eine äußerst interessante Übung ist. Übersetzen ermöglicht mir, viel mehr an der Sprache zu arbeiten, als wenn ich einen Roman schreibe. Da muss man an alles allein denken; man kümmert sich um die Konstruktion der Figuren, um die Dokumentation, um die Erzählung, den erzählerischen Zusammenhang, die Glaubhaftigkeit der Fakten, die Qualität der Sprache, usw. Man ist für alles zuständig. Wenn man übersetzt, muss man sich nur um eine Sache kümmern, nämlich um die Sprache. Das ist super, weil man wirklich in den Wörtern herumstöbern kann und nach dem besten Adjektiv hinsichtlich seiner etymologischen Funktion suchen kann. Es ist eine sehr galante Aufgabe. Und ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass sie heilend ist. Als Autor kümmerst du dich um alles und wenn du nicht alles zu Ende führen kannst, dann kann das zeitweise sehr frustrierend sein. Wenn man sich dann in einer Übersetzung nur auf die Sprache konzentrieren kann, dann ist das beinah wie eine Erholung von der Frustration. Das ist sehr angenehm.

Du erwähntest bereits, dass dich Container schon lange interessieren. Nun liegt dein Roman Six degrés de liberté vor, in dem es um Container geht. Wie entwickelte sich die Idee zum Roman?

Nicolas: Der ausschlaggebende Punkt für Six degrés de liberté ereignete sich in Deutschland. Die Welt der Container faszinierte mich schon lange, aber es war eine Faszination von vielen. Ich interessiere mich für sehr viele Dinge. Ich dachte nicht daran, daraus etwas zu machen. Als ich in Bamberg war, fand in Kassel die Documenta statt. Meine Freundin besuchte mich damals für einige Wochen und wir wollten etwas unternehmen. Wir verbrachten ein Wochenende in Kassel. Dort gab es eine Ausstellung von Alan Sekula, ein Photograph aus den USA. Er ist vor rund zwei Jahren verstorben. Die Ausstellung begleitete ein Katalog, in dem es um Container ging. Ich fand den Katalog interessant, wollte ihn aber nicht kaufen, weil ich wenig Geld hatte. Meine Freundin überredete mich dann doch dazu und ich kaufte ihn.
Er enthält Photographien, zu denen Sekula auch Texte geschrieben hat. Es ist eine Art photographischer und textlicher Essay. Er betrachtete die Industrie des maritimen Transports im Allgemeinen, aber auch Container und den Hafen als Umladeplatz dafür und analysierte sie mithilfe eines literarischen Blickwinkels. Um diese Welt näher zu betrachten, wählte er große, historische Photographien aus und auch filmische und literarische Werke wie Der weiße Hai von Stephen Spielberg und 20.000 Meilen unter dem Meer von Jules Verne. Er suchte Elemente dieser Industrie aus, die uns nur wenig interessant erscheinen und setzte sie in einen kulturellen Rahmen. Das war für mich das fehlende Stück, um etwas mit Containern zu machen. Von diesem Zeitpunkt aus konnte sich die Idee langsam zu einem Roman entwickeln. Wäre ich damals nicht in Kassel gewesen, hätte ich den wenig bekannten Photographen vielleicht nicht entdeckt.

Und wie bist du in der Folge vorgegangen?

Nicolas: Im Internet gibt es sehr viele Dokumentationen. Für Six degrés de liberté habe ich wirklich den Informationsfluss überwacht. Für die Leute aus der Transportindustrie gibt es viele Zeitschriften und Websites sowie Newsletter und Blogs, die an diese Gruppe adressiert sind. Ich habe alles abonniert. So erhielt ich nach und nach die Informationen. Ich habe auch Google alerts eingerichtet. So erfuhr ich, wenn ein blinder Passagier irgendwo in einer Kiste gefunden wurde. Man erfährt auf diese Weise, wohin sich die Industrie Trimester für Trimester entwickelt.
Ich schrieb über etwas, das an Science Fiction grenzt, aber so langsam scheint die Industrie dort anzugelangen. Alle sechs Monate hätte mich dieser Wirtschaftszweig, über den ich schrieb, einholen können. Ich hatte das Gefühl, auf der Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft zu schreiben.
Oft sind es Katzen, die in Containern umherreisen, die in Hamburg in einen Container gelangen und dann in New York landen. Vielleicht war das schon immer so und erlangte erst jetzt das Medieninteresse. Die Medien berichten immer häufiger davon. Fast alle zwei bis drei Monate hört man von einer Katze, die in einem Container gefunden wurde. Zuvor war das nicht so. Das stellt man fest, wenn man über mehrere Jahre lang bei einem Thema auf dem Laufenden bleibt.

Du hast also viele der Informationen im Internet gefunden. Dort gibt so viele Informationen, dass man nach bestimmten Dingen suchen muss, um sie zu finden. So vieles rauscht dabei unbemerkt an einem vorbei. Dies ermöglicht es u.a. deinen Protagonisten in Six degrés de liberté, die Grenzen zu überschreiten und sich am System unbemerkt vorbei zu mogeln.

Nicolas: Die Informationen sind alle verfügbar, aber die Menschen schauen sie sich nicht an. Sie sehen sie nicht. Das ist einer der Gründe dafür, dass ich regelmäßig darauf bestehe, dass der Container ein durchsichtiger Gegenstand ist, den die Leute sehen, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Das veranschaulicht unsere Realität, in der die Menschen Informationen filtern. Ich habe keine Ahnung vom Inneren der Industrie, kenne niemanden, der am Montréaler Hafen arbeitet. Ich habe keinen Zugang zu geheimen Informationen. Dennoch ist alles da, aber die Leute interessieren sich nicht dafür. Ich habe den Eindruck, dass es so konzipiert ist, dass die Leute sich nicht dafür interessieren. Bis auf die Menschen, die beim Zoll arbeiten und die Frachtführer, weiß kaum jemand, was in den Containern enthalten ist. Die Hafenarbeiter wissen es nicht. Natürlich gibt es Listen, auf denen die Inhalte aufgeführt sind und Hinweise für das Verladen, aber es gibt ein Prinzip des Industriegeheimnisses, das dafür sorgt, dass man nicht weiß, welche Produkte enthalten sind.

Wie entstehen deine Romanfiguren? Oft sind es Freundschaften zwischen Frauen und Männern wie Mickey und Hope in Tarmac, Éric und Lisa in Six degrés de liberté. In Six degrés de liberté kehrt auch J zurück, die man aus Nikolski kennt.

Nicolas: In Québec ist es ein Running Gag, dass ich nur Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen entwerfe, die eigentlich zu Sexszenen führen müssten, die es aber nicht gibt. Es gab eine Zeit, in der hatte ich den Eindruck, dass Sexszenen ein Muss in Romanen aus Québec sind. Das hat mich immer verärgert, denn in dem Moment, wo es eine Pflicht wird, ist es für mich nicht mehr interessant. Hinzu kommt, dass die beiden Protagonisten in Tarmac nicht miteinander schlafen, weil Hope das nicht möchte. Sie hat Angst vor dem Untergang der Welt. Somit ist der Gedanke an eine Beziehung für sie ein Gedanke an die Zukunft und das ist in ihrem Leben, in dem sie auf die Apokalypse wartet, nicht möglich. Dass sie miteinander schlafen wäre also unbegründet. Und das ist in der Konstruktion der Figuren eingeschrieben.
In Six degrés de liberté spreche in von Freundschaft. Das ist von Anfang an klar. Und mehr noch; sie sind wie Bruder und Schwester oder Halbbruder und Halbschwester. Sie sind Familie. Als am Ende Laerke, Éric und Lisa vereint sind, ist das ein familiäres Wiedersehen und weniger eine Sache der Freundschaft.
Aber du wolltest wissen, wie meine Figuren entstehen. Es ist ein eher mechanischer Prozess, würde ich sagen. Ich projiziere selten viel Psychologie auf meine Figuren. Sie sind eher Dispositive, mechanische Teile. Wenn ich sie anfange zu beschreiben, mit ihnen lebe und mich frage, wie sie in bestimmten Situationen reagieren würden, Szenen schreibe und wieder verwerfe, dann erhalten sie eine gewisse Komplexität. Ich fange an, sie mehr oder weniger als Menschen zu betrachten, nachdem sie zu Beginn wie einzelne Teile eines Motors waren. Welche Funktion muss diese oder jene Figur erfüllen? Welchen Gegeneffekt müssen zwei Figuren zueinander haben? Welches Verhältnis von Spannung oder Verbindung möchte ich an dieser Stelle haben? Sind es ein Junge und ein Mädchen? Anfangs sind es große Blöcke, die sich zunehmend verfeinern, einzelne Körner, die an Auflösung gewinnen. Sie sind wie digitale Bilder. Ändert man die Auflösung, wird es immer präziser, bis ein schönes Foto entsteht.