Interview mit David Paquet

12. Mai 2016 | nachgefragt

Der Dramatiker David Paquet aus Montréal lebt gerade für drei Monate in Berlin. Schon zuvor führte es ihn immer mal wieder nach Deutschland, wo seine Stücke Stachelschweine, Open House und 2 Uhr 14 bereits aufgeführt wurden und werden. Auch bei seinem jüngsten Aufenthalt nutzte er die Gelegenheit und schaute sich am 31. März 2016 zum ersten Mal sein Theaterstück Open House in deutscher Inszenierung am Staatstheater in Saarbrücken an, am 5. April 2016 war er auf der Premiere von 2 Uhr 14 am Deutschen Theater Berlin. Ein weiterer Grund für seine Aufenthalte ist, dass er Deutschland und ganz besonders Berlin mag.
Ich traf den Autor an einem sonnigen Tag in einem Berliner Café, das mit einem umfangreichen Angebot englischsprachiger Bücher lockt. Weil David Paquets Deutschkenntnisse noch in den Kinderschuhen stecken, muss er sich auf Englisch oder Französisch verständigen. Aber es heißt ja sogar, dass man in Berlin gar keine Deutschkenntnisse braucht, um problemlos seinen Alltag zu leben. Während am Nebentisch ein Sprachtandem Polnisch-Deutsch zugange war, unterhielt ich mich mit David Paquet über seine Verbindung zu Deutschland, seine Theaterstücke und die Montréaler Theaterszene. Und obwohl er mir nicht verraten wollte, wer seine Lieblingsfigur ist, wählte er aus jedem Stück eine, mit der er am Tag des Interviews gern in ein Café gegangen wäre.

Welche Verbindungen hast du zu Deutschland?

David: Die erste deutsche Stadt, in der ich war, war Saarbrücken. Dort wurde mein Stück Porc-épic, in deutsch Stachelschweine, im Rahmen des Festivals Primeur produziert. Ein erstes Mal nach Berlin kam ich, nachdem ich für eine Aufführung meines Stücks Porc-épic in Wien war. Ich hängte an meinen Aufenthalt ein paar Tage dran und reiste nach Prag und Berlin. Ich fand die Stadt auf Anhieb super. Seitdem bin ich immer mal wieder hergekommen; gerade bin ich zum sechsten Mal hier.

War es immer das Theater, das dich in die deutsche Hauptstadt führte?

David: Das erste Mal nicht. Da war ich einfach neugierig auf die Stadt. Das zweite Mal besuchte ich hier einen Freund, als ich eine Schreibresidenz in La Rochelle hatte. Im April 2015 kam ich dann, um die Aufführung von 2 h 14 auf dem Festival Augenblick Mal! zu sehen. Es war eine Inszenierung einer Gruppe aus Leipzig und ich wurde ins Theater an der Parkaue eingeladen. Sie zeigen dort Jungendtheater. Im Dezember 2015 war ich erneut in Berlin, um bei der Veranstaltung anlässlich der Veröffentlichung von 2 Uhr 14 in dem Band SCÈNE 18 dabei zu sein. Es wurden Auszüge aus den darin veröffentlichten Theaterstücken gelesen. In meinem Fall wurde ein Auszug aus dem Hörspiel vorgespielt, das der Saarländische Rundfunk produziert hat. Gerade bin ich wieder auf eigener Faust hier, um aus meinem Arbeitsalltag auszubrechen und mir die besten Konditionen fürs Schreiben zu schaffen. Davon abgesehen hatte ich bereits die Möglichkeit, sowohl mein Stück Open House in Saarbrücken zu sehen als auch bei der Premiere von 2 Uhr 14 im Deutschen Theater dabei zu sein.

Hast du bereits einen Eindruck von der deutschen Theaterszene erhalten?

David: Ich habe mir Aufführungen in der Volksbühne, in der Schaubühne und im Maxim Gorki Theater in Berlin angeschaut und einige Performances der freien Theaterszene in Bars. Und auch wenn es viele Inszenierungen mit Untertiteln gibt, hält mich die Sprachbarriere davon ab, mehr zu sehen. Daher gehe ich eher auf Konzerte und in Clubs. Ich mag die Elektroszene hier sehr.
Soweit es ging, habe ich mir meine Stücke in Deutschland angeschaut.

Als du am 31. März 2016 in der Aufführung von Open House warst und am 5. April 2016 bei der Premiere von 2 Uhr 14, worauf hast du da besonders geachtet?

David: Ich richte mein Augenmerk immer als erstes auf das Publikum. Ich liebe es, das Publikum dabei zu beobachten, während es sich meine Stücke anschaut. Ich schreibe ja für die Leute im Publikum und wenn ich die Möglichkeit habe, mit ihnen im selben Raum zu sitzen, während sie nun sehen, woran ich lange gearbeitet habe, gilt meine Aufmerksamkeit ihnen. Natürlich interessiert mich auch, wie das Ensemble sich meine Stücke aneignet, denn darin liegt ja gerade das Besondere des Theaters: all die unterschiedlichen Interpretationen ein und desselben Textes zu sehen. Es ist aber vor allem das Publikum, auf das ich mich konzentriere, denn ich möchte wissen, ob das, was ich mit meinem Schreiben erschaffen habe, bis zu ihm durchdringt. Erst dann schaue ich, wie mein Stück auf die Bühne transportiert worden ist.
Das erste Mal, als ich eines meiner Stücke in Übersetzung sah, war ich neugierig, ob die Leute dann reagierten, wann ich es geplant hatte und ob es meiner Meinung nach gut übersetzt war. Ich kenne Frank Weigand jetzt schon lange und ich mache mir keine Sorgen mehr darüber, ob die Übersetzung gut ist oder nicht. Ich bin mir sicher, dass sie es ist, denn ich weiß, dass er ein sehr guter Übersetzer ist.

Welchen Eindruck vom Publikum hattest du bei der Aufführung von Open House in Saarbrückken?

David: Was mich am meisten überrascht hat, war die Energie. Open House ist ein Stück, das sehr ausgeflippt und radikal ist. Man hat den Eindruck, dass die Figuren auf Droge sind. Die Inszenierung des Textes war sehr hektisch. Das Publikum nahm das auf und wurde aufgeregt. Es ähnelte beinah der Energie während eines Konzerts. Die Leute teilten ihre Reaktionen mit. Das fand ich sehr interessant. Oft lachten sie auch. Das zu sehen, war mir eine Freude. Nach der Aufführung kamen Leute zu mir und ich war froh, dass sie nicht nur sagten, dass sie es lustig fanden, sondern dass sie die unterschiedlichen Aspekte des Stücks hervorhoben: den Humor und das Tragische. Die Menschen lachen gerne, aber ich wäre enttäuscht, wenn sie nur den humoristischen Teil meiner Stücke in Erinnerung behalten würden, wobei der Humor doch in Diensten von unglaublich traurigen Dingen steht. Ich hatte den Eindruck, dass das in Saarbrücken gelungen war.
Mich rührte zudem, dass die Schauspieler beim Spielen Vergnügen hatten. Nach der Aufführung konnte ich mit ihnen sprechen und sie sagten mir, wie sehr sie dieses Stück mögen. Jedes Mal sei das Publikum entzückt und sie hätten solche Freude, die Figuren zu spielen. Es freut mich sehr, zu wissen, dass die Leute ihren Spaß mit dem haben, das ich geschrieben habe.

Und wie war es bei der Premiere von 2 Uhr 14 im Deutschen Theater?

David: Es war wirklich super, dass ich beide Stücke innerhalb von vier Tagen gesehen habe. Es sind sehr unterschiedliche Aufführungen, was klar ist, denn es sind unterschiedliche Stücke. Auch die Kontexte waren anders. In Saarbrücken war es das Theaterensemble, das gespielt hat, im Deutschen Theater war es das Junge Theater, für das neben zwei Schauspielern aus dem Ensemble vier unerfahrene Jungschauspieler gecastet wurden. Was mich bei 2 Uhr 14 am meisten berührt hat, war, dass ich zum ersten Mal sehen konnte, wie die Figuren von Schauspielern in ihrem Alter gespielt wurden. Als ich das Stück schrieb, hatte ich diese Mischung von Menschen unterschiedlichen Alters im Kopf und hoffte, es so auf der Bühne zu sehen. Nun war es endlich so weit gewesen.
Ich fand die Inszenierung sehr elegant. Sie war anders als das, was ich bisher vom Theater in Deutschland gesehen habe. Es ist zwar ein Klischee, aber manchmal auch wahr: diese Tradition der brechtschen Distanz hinsichtlich des Bezugs zu Gefühlen. In Nordamerika sind wir näher an der Methode des Actors studio. Die Schauspieler verkörpern das Gefühl, versuchen, der Figur Leben einzuhauchen, während es in Deutschland eine Distanz zwischen dem Schauspieler und seiner Figur gibt, so als spiele er die Figur und kommentiere sie zugleich. In der Aufführung von 2 Uhr 14 hatte ich den Eindruck, dass die Schauspieler nicht „gefühlsphobisch“ waren, um einen neuen Ausdruck zu verwenden. Sie hatten keine Angst vor den Emotionen. Sie gaben sich ihnen hin und drückten sie aus. Das beeindruckte mich und ich fand es erfrischend. Das Publikum reagierte mit Lachen, war mal bewegt und dann schockiert. Es gab dieses emotionale Auf und Ab. Ich möchte mir die Aufführung in den nächsten Wochen gern noch einmal anschauen.

Wie war es für dich, als du erfahren hast, dass Porc-épic ins Deutsche übersetzt und in Deutschland aufgeführt wird?

David: Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als es auf dem Festival Primeurs in Saarbrücken gezeigt wurde. Ich war so aufgeregt, eines meiner Stücke in Deutschland zu sehen. Mir gefiel die Art der Inszenierung des Stücks. In Québec gibt es diese Art von szenischer Lesung nicht. In Québec gibt es die statischen Lesungen, bei der der Vorlesende hinter einem Notenständer steht. Im Fokus steht die Lesung des Textes. Auf dem Festival war es eine hybride Form einer Aufführung und einer Lesung. Die Schauspieler trugen Kostüme und waren in Bewegung. Es fühlte sich wie eine richtige Produktion an bis auf die Tatsache, dass die Schauspieler ihre Texte in den Händen hielten. Ich war mit dem konfrontiert, was ich mit brechtisch zu bezeichnen versuche. Die Figuren waren sehr clownesk. Ich erinnere mich auch noch an den Eindruck, den die Sprache hinterlassen hat. Ich fand sie witzig, fand es aber gleich närrisch, das zu denken. Es ist eine Sprache, die ich nicht kannte, die verglichen mit meiner Muttersprache sehr guttural ist. Es gibt Klänge, die ich nicht wahrnehmen konnte. Ich fand sie aber sehr musikalisch, was ich mochte. Es gab Momente, in denen sie sehr sanft war und dann machten die Schauspieler plötzlich einen verärgerten Eindruck. So lernte ich den Klang des Deutschen kennen, indem ich Schauspieler Deutsch sprechen hörte, die meine Worte sagten. Das war super.

Hat dich die Tatsache, dass deine Stücke in andere Sprachen und somit vielleicht auch in andere kulturelle Kontexte übertragen werden, später in deinem Schreiben beeinflusst?

David: Diese Frage und auch die Antwort darauf beinhaltet zwei Dinge: Als Autor, dessen Texte möglicherweise übersetzt werden, habe ich über den Prozess und die Herausforderungen des Übersetzens nachgedacht. Was ist es, was man übersetzt? Benutzt man kulturelle Äquivalente, um dem anderssprachigen Publikum entgegenzukommen oder nicht? Bis zu welchem Grad entfernt oder modifiziert man die Québécitude in meinen Stücken, um sie im Ausland zu verbreiten? In Porc-épic war z.B. die Rede von einer Poutine. Bei einer Übersetzung ging es jedes Mal darum, ob man die Poutine stehen lässt, obwohl viele Menschen nicht wissen, was eine Poutine ist. Oder überträgt man es in ein ähnliches Essen, das der Poutine in Québec eben in jedem der Länder entspricht: in Deutschland die Currywurst, in England der Kebab. Darüber habe ich nachgedacht. Einen Text zu übersetzen bedeutet auch, das in einer anderen Sprache wiederzugeben, was der Autor in seiner Sprache erschaffen hat und nicht die wortwörtliche Übersetzung.
Inwiefern das nun meinen Schreibprozess beeinflusst hat: Mein dramatisches Universum hat das nicht verändert, aber mein Bewusstsein. Es hat die Möglichkeit erweitert, die die Geste der Kommunikation darstellt, die das Theater bietet. Als ich anfangs schrieb, dachte ich, dass ich damit nur die Leute in Québec erreichen würde. Dann wurde mir klar, dass das Stück, von dem ich dachte, dass es vielleicht 15 Mal aufgeführt und von rund 1500 Menschen gesehen wird, letztlich von viel mehr Leuten gesehen wurde. 2 Uhr 14 wurde von weit mehr als 1000 Leuten gesehen und gehört, denn zum Stück entstand auch ein Radiohörspiel. Die Verantwortung beim Schreiben von Theater setzte mich nun unter Druck. Mir wurde bewusst, dass viele Menschen die Möglichkeit hatten, meine Arbeit zu sehen und so wollte ich umso mehr – ich wollte es von Anfang an, aber nun eben umso mehr –, dass meine Stücke es wert sind, von all den Leuten gesehen und gehört zu werden. Wenn ich jetzt etwas schreibe, sage ich mir oft, dass es nicht relevant genug ist. Das geschah mir sonst nicht. Es ist eine Art der Zensur, nicht wirklich eine Zensur … aber ich schreibe viel langsamer als zuvor.
Das ist die größte Veränderung, die ich festgestellt habe.
Ich interessiere mich für das, was ich als transpersönlich und transkulturell wahrnehme. Das Persönliche, Intime und Psychologische zog mich mehr an als das Politische und das Soziale. Vielleicht hat das dafür gesorgt, dass meine Stücke in der Welt unterwegs sind. Denn weil sie innerliche Landschaften zeigen und ich versuche zu verstehen, was dazu führt, dass wir uns zunehmend ähneln und seltener unterscheiden, können sie womöglich von einem Mexikaner verstanden werden so wie von einem Deutschen, einem Franzosen, einem Belgier, einem Engländer, einem Kanadier oder einem Québecer.

Du hast bereits Frank Weigand erwähnt. Er hat deine Stücke Open House und 2 Uhr 14 übersetzt. Wie geht er voran? Bezieht er dich in seine Übersetzung mit ein?

David: Beim ersten Stück, das er von mir übersetzt hat, 2 h 14, haben wir via Skype telefoniert und ich antwortete ihm auf einige Fragen. Frank ist ein erfahrener Übersetzer, der viel an Québecer Dramaturgie gelesen hat und der oft in Québec ist. Er versteht das Québécois. Bei Open House hatte er kaum Fragen. Beide Stücke ähneln sich in ihrer Sprache und dem Aufbau der Figuren. Beides sind festliche Tragödien. Wir diskutierten über den Titel. Im Original heißt es Appels entrants illimités. In Québec ist es ein ländlicher Ausdruck. In Frankreich, wo es oft gezeigt wurde, ist der Titel unverändert geblieben, aber ich glaube, die Leute haben ihn nicht verstanden. Es ist ein Ausdruck für einen Telefontarif und dann steht dahinter auch ein existentielles Konzept. Wenn ich das Stück so hätte nennen können, wie ich es gewollt hätte, hieße es Open House.

Das Stück spielt in einer Wohngemeinschaft mit drei Bewohnern, die sich mal im Gemeinschaftsraum treffen, sich dann in ihre Zimmer zurückziehen und nur selten die Wohnung verlassen.

David: Open House veranschaulicht ein Dreieck: Die Beziehung zwischen sich, zu anderen und der Welt. Die Figuren ziehen sich in ihre Zimmer zurück, um mit sich allein zu sein und wieder Kraft zu schöpfen oder zu entfliehen. Wenn sie im Gemeinschaftsraum sind, stehen sie in Beziehung zueinander und manchmal verlassen sie die Wohnung, um etwas zu erledigen. Als ich an dem Stück schrieb, fragte ich mich, wie man sich beschützen kann, ohne sich von der Welt zurückzuziehen. Und diese Frage stelle ich mir heute noch, denn wir werden von Informationen und Reizen geradezu überflutet. Sie verwirren mich und manchmal nervt es mich. Früher ging man für Informationen nach draußen. Durch das Internet und das Fernsehen kommt das Draußen bis zu uns nach Hause. Wie können wir unser blühendes Inneres bewahren? Wenn wir es verlieren, werden wir auf gefährliche Weise durchlässig. Ich möchte aber nicht durchlässig oder undurchlässig sein. Open House ist also ein tragbares Konfigurationsspiel um diese Spannung, die von dem Versuch herrührt, Teil der Welt zu sein, ohne dabei von ihr geschluckt zu werden.

Deine Figuren sind oft besorgt, hinterfragen sich und wünschen sich, „normal zu sein“, wie François in 2 Uhr 14 sagt.

David: Beinah alle meine Figuren sind auf der Suche nach dem Glück. Das ist wenig originell, aber das stört mich auch nicht weiter. Wir sind alle auf der Suche nach Glück, nicht nur, auch auf der Suche nach Gerechtigkeit, ausgleichender Gerechtigkeit, ich hoffe auch auf der Suche nach Empathie. Wenn man auf den Umschlag des Stücks schreiben würde „Figuren auf der Suche nach dem Glück“, würde das nichts aussagen. Meine Stücke sind schwer zu resümieren, aber man muss sie ja auch nicht auf nur einen Satz runterbrechen, denn dann wirken sie seltsam: Drei Figuren sitzen in einer Wohnung und haben Angst rauszugehen. Eine Frau möchte ihren Geburtstag feiern und lädt Fremde dazu ein.
Ich arbeite gern mit emotionalen Schwankungen. Ich mag es, wenn in kurzer Zeit die Stimmung von Lachen zu Weinen kippt. Das war auch eines der schönsten Komplimente, die man mir gemacht hat, als man mir sagte: „Als ich dein Stück sah, verstand ich nicht, was mit mir los war. Ich lachte und in der nächsten Sekunde weinte ich.“ Man hatte mir damit eines meiner Arbeitsziele bestätigt. Ich weigere mich, eine Entscheidung zu treffen, denn das entspricht nicht dem Leben. Es ist nicht nur lustig und auch nicht nur traurig. Also sind meine Texte auch nicht nur das eine oder das andere. Einige Autoren nehmen sich sehr spezifische Themen vor. Meine existentiellen Komödien helfen mir dabei, eine Stimmung festzuhalten, z.B. wie wenn man, wie vorhin erwähnt, Teil der Welt sein möchte, ohne dabei von ihr verschluckt zu werden. In Porc-épic versuchte ich die Spannung zu fassen, die entsteht, wenn man sich dem anderen gegenüber öffnet, ohne ihm dabei zu viel Macht über sich zuzugestehen. Denn je mehr man sich dem anderen öffnet, umso mehr kann er einen verletzen; je weniger man es macht, umso mehr bringt man sich in eine einsame Lage.
2 h 14 zeigt den Lebenswillen – ich muss gleich weinen, denn ich mag diese Figuren sehr. Das Leben lässt einen unbeholfen sein und dennoch versucht man so sehr Ideen und kreative Lösungen zu finden, um es zu leben und die Hindernisse zu überwinden. Und dann wird einem jegliche Chance auf Gelingen durch eine Gewalttat ohne Namen genommen. Und die Mutter; wie kann sie diesen Knoten entknoten, dass es ihr Sohn war. Die anderen waren die Töchter und Söhne anderer Menschen. Sie liebte ihren Sohn. War er es, der diese Tat begangen hat? War es wirklich er? Gewalt kann einen sehr durcheinander bringen.

Du sagtest, dass du deine Figuren sehr magst. Gibt es denn eine, die momentan dein Favorit ist?

David: Wie mein Gemütszustand ändert sich das mehrmals täglich. Ich mag sie alle auf dem Papier. Wenn ich dann die Inszenierungen sehe und sehe, wie sich meine Figuren und die Schauspieler auf der Bühne begegnen, kann ich sagen, dass mir in dieser Aufführung die Interpretation jener Schauspielerin oder jenes Schauspielers am besten gefallen hat. Mehr kann ich dazu nicht sagen, bis auf: Die erste Figur, die in 2 h 14 entstanden ist, war Jade. Anfangs hieß das Stück noch Vers solitaires und ich ging davon aus, dass es an einer Schule spielt und jemand in der Caféteria Eier von Bandwürmern in die Makkaroni getan hätte. Alle Schüler, die die Makkaroni gegessen hätten, hätten Bandwürmer. Das Schreiben führte mich dann woanders hin.
Meine Figuren entwickeln sich oft aus einem Accessoire oder einer Aussage heraus: der Bandwurm führte zu Jade, ein Blindenstock führte zu Berthier, ein Baseballschläger in Porc-épic führte zu Suzanne, der Satz „je te désire plus“ (ich liebe dich nicht mehr) in Porc-épic führte zu Théodore und Noémie entsprang dem Satz „bonne fête qui, bonne fête moi“ (wem alles Gute, mir alles Gute). Ich hatte ihn in einem Geburtstagsvideo eines Freudes gehört. Damals schrieb ich noch kein Theater, sondern Gedichte, aber ich war mir sicher, dass dieser Satz irgendwo auftauchen würde. Bei François war es der Satz „j’ouvre une porte“ (ich öffne eine Tür), bei Denis „tout ce que mange goûte le sable“ (alles schmeckt nach Sand) und bei Pascale „je suis pas une tortue“ (ich bin keine Schildkröte). Bei Katrina war es zuerst „je m’appelle Katrina comme la tempête“ (ich heiße Katrina, so wie der Hurrikan). Daraus hat sich ihre leicht jähzornige Persönlichkeit entwickelt; überall wo sie ist, hinterlässt sie Chaos. Ich mag sie alle. Wenn ich heute mit einem von ihnen einen Kaffee trinken gehen würde, wer würde das sein? Ich würde mit Denis ins Café gehen, denn er ist müde und das bin ich auch. Ich würde mit Noémie aus Porc-épic ins Café gehen, denn sie wurde oft zurückgewiesen. In Open House ist eigentlich Louis mein Favorit, aber heute würde ich mit Charlotte einen Kaffee trinken gehen.

Du schreibst hauptsächlich in Montréal an deinen Stücken. Gerade bist du in Berlin, um optimale Schreibbedingungen für dein neues Stück zu haben, an dem du arbeitest. Wird sich Berlin denn darin wiederfinden?

David: Ich würde gerne ja sagen. Es meint nur den Ort, wo ich schreibe und ich schreibe hier mehr, als wenn ich jetzt in Montréal wäre. Auf das Stück, an dem ich gerade schreibe, wirkt sich das wohl weniger aus. Es spielt beim Zahnarzt. Meine Stücke sind nicht in Städten verortet. Sie sind wie kleine Blasen, die nicht weiter lokalisiert sind. Die Schießerei in 2 Uhr 14 hätte überall passieren können. Bis auf die Poutine in Porc-épic gibt es keine weiteren Hinweise auf spezifische Orte. Vielleicht zeigt sich das nach meinem Aufenthalt in Berlin. Wenn ich wieder in Montréal bin, nehme ich an einer literarischen Veranstaltung teil, bei der ich einen fünfminütigen Text oder ein Gedicht lesen werde. Darin wird Berlin vorkommen, denn ich werde nach meiner Abreise daran schreiben und es wird in der Ich-Form sein. Es geht um mich, der in Berlin war. Bei meinen Figuren ist das anders. Darin liegt vielleicht der Unterschied.

Es gibt keine Figur, die in Berlin entstanden ist?

David: Nein. Die Figuren, mit denen ich gerade arbeite, gab es schon. Es sind vier und zwei davon habe ich schon sehr lange im Kopf. Es ist ein Projekt, das ich lange auf kleiner Flamme kochen ließ. Ich wollte, dass sie nicht verschwinden, sondern warteten. Ich habe sie viel zu lange vernachlässigt, aber dadurch sind sie gereift. Ich habe sie, sagen wir mal, lange marinieren lassen. Je länger sie in der Marinade liegen, umso geschmackvoller werden sie. Seit ich in Berlin bin, habe ich aber viel über sie erfahren. Wenn ich mir die Zeit für sie nehme, zeigen sie sich. Und oft tauchen sie auf, wenn ich in der Badewanne bin. Wenn ich ein Bad nehme, ist es, als ob ich meinen Kopf von Dingen befreie und mein Autorenhirn aktiviert wird. Dann fallen mir Dinge ein, ich höre einzelne Sequenzen und komme in Stimmung, zu schreiben. Wenn ich habe, was ich brauche, lasse ich das Wasser raus, schlüpfe in meinen Pyjama und schreibe. Ich arbeite dann oft die ganze Nacht durch.

Wie ist die Theaterszene in Montréal aufgestellt?

David: Was ich besonders an der Theaterszene in Québec mag, ist die Vielfalt an Theaterschaffenden. Der Austausch ist unkompliziert. In Montréal sind wir oft unter uns und sehen uns regelmäßig durch das Centre des auteurs dramatiques, das eine tolle Arbeit leistet. Wir sehen uns auf Eröffnungsabenden, wir sehen uns bei den Aufführungen unserer Stücke; Autoren unterschiedlichster Generationen. Ich betone das, weil mir in Frankreich die Hierarchie aufgefallen ist. Die jungen Autoren reden nicht wirklich mit den etablierten Autoren. Die Autoren der Nationaltheater reden nicht mit den Autoren der Untergrundszene. Ich war auch auf einem Festival, wo es außer Frage war, dass sich die Regisseure mit den Praktikanten und anderen Leuten an einen Tisch setzen. In Montréal gibt es diese Hierarchisierung in der Theaterszene nicht, was ich toll finde. Es gibt einige Autoren, die ich sehr bewundere, wie Carole Fréchette, Larry Tremblay und Michèl-Marc Bouchard. Sie zählen zu den berühmtesten Autoren in Québec und werden auch im Ausland inszeniert. Das Verhältnis zu ihnen ist sehr kollegial. Und diese Kollegialität untereinander finde ich sehr wichtig und ich bin sehr dankbar dafür.
Viele der Bühnenautoren kommen von der École national de théâtre, die ein einzigartiges Programm hat. Sie bildet in drei Jahren sehr solide Autoren aus. Es gibt pro Jahrgang zwei Autoren. Da ist es gerade ein guter Zeitpunkt, Nachwuchsautor zu werden, wobei Nachwuchs vom Alter her relativ ist. Autoren zwischen 25 und 40 Jahren koproduzieren gutes Material, was sich untereinander sehr unterscheidet. Die Vielfalt des Québecer Theaters ist super und eine, die sich gut exportiert. Ich bin froh, ein Teil davon zu sein.
Ich glaube, und das ist auch eine Hypothese die entstand, als es darum ging zu verstehen, warum die Québecer sich so exportieren, dass Montréal eine Stadt ist, in der sich viele Einflüsse vermischen. Québec ist in Nordamerika die einzige Provinz mit einer frankofonen Mehrheit. Das macht uns zu einer Bevölkerung mit einer marginalen Kultur. Wir sind europäischer als alle anderen. Wir sind eine Mischung aus europäischen und nordamerikanischen Einflüssen. Wir sind Erzähler, im Theater, im Tanz, in allem. Das französische Theater ist oft sehr erzählend. Es ist wie ein Diskurs, der von einem Schauspieler auf die Bühne gebracht wird. Die Beziehung zur Figur, abhängig vom Darsteller, ist distanzierter, weniger wichtig. In Québec zirkuliert die Erzählung unter uns. Wir erzählen Geschichten. Wir leisten gute Arbeit, nur das Geld ist ein Problem.

Welche Bücher aus Québec würdest du empfehlen?

David: Vor ein oder zwei Jahren habe ich ein Buch mit Kurzgeschichten gelesen, Dans le noir jamais noir, von Françoise Major. Das fand ich super. Ich mag die Sprache und den poetischen Rhythmus von Annick Lefebvre, unter anderem in ihrem Stück J’accuse. Ich mag den formellen Aufbau und die Fülle der Worte von Guillaume Corbeil z.B. in Nous voir nous. Ich mag die Sprache und den Wortwitz von Etienne Lepage vor allem in seiner Tanz-Theatershow Ainsi parlait. Dann ist da Les 7 jours de Simon Labrosse von Carole Fréchette. Es hat etwas besonderes im Bereich der Fantasie, was ich sehr frisch und belebend fand. In Je pense à Yu ist es ihr gelungen, das Persönliche mit dem Politischen auf eine gekonnte Art zu vermischen. Ich mag das Rätselhafte bei Larry Tremblay z.B. in einem seiner älteren Stücke Le ventriloque oder in Abraham Lincoln va au théâtre. Darin zeigt er ein sehr beherrschtes System des Mise en abyme.