Interview mit David Clerson

5. April 2024 | nachgefragt

Es ist Frühling in Berlin geworden. Die Stadt zeigt sich also von ihrer besten Seite, als ich David Clerson 2018 auf der Dachterasse des Circus Hotels am Rosenthaler Platz zum Interview treffe. Der in Sherbrooke geborene und in Montréal lebende Autor schreibt Kurzgeschichten und Romane. Bei Héliotrope liegen Frères und En rampant vor. Sein Debütroman Frères gibt es zudem in der englischen Übersetzung von Katia Grubisic bei QC Fiction, wofür Clerson 2014 den Grand prix littéraire Archambault erhalten hat. Ich habe den Autor das erste Mal auf der Buchmesse in Brüssel gesehen und später dann auf der Buchmesse in Montréal getroffen.
Das Interview findet kurz vor seiner Lesung im Rahmen von Book and you statt. Wir sprechen hauptsächlich über seine beiden Romane, in denen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Mensch und Tier, zwischen Leben und Tod verschwimmen.

Wenn du an Berlin denkst, was kommt dir da in den Kopf?

David: Wenn wir in Québec an Berlin denken, vergleichen wir die Stadt oft mit Montréal, weil sich das Leben in diesen Städten ähnelt und sie nicht nur ein Zentrum haben, in dem sich alles drängt. Ich denke an Berlin als eine alternative Stadt, die über eine Gegenkultur und gegenkulturelle Bewegungen verfügt.

Hat sich deine Vorstellung bestätigt?

David: Ich bin beeindruckt. Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber ich komme aus dem Punk, und er ist mir sehr wichtig. Ich habe mit einem Künstler zusammen das Buch Post punk art nord über den Einfluss des Punk in der Kunst und in der Literatur geschrieben. Der Einfluss des Punk zeigt sich in der Öffentlichkeit auch darin, wie sich Menschen kleiden. Hier in Berlin zeigt sich sein Einfluss in vielen Dingen, ist präsenter als etwa in Paris und auch präsenter als in Montréal. Das finde ich interessant und auch gut.

Was hat Berlin mit Montréal und Istanbul – beides Städte, in denen du lebst bzw. gelebt hast – gemein?

David: An Istanbul, wo ich 2012 drei Monate lang und 2015 einen Monat lang verbracht habe, hat mich am meisten erstaunt, wie viel sich im Freien abspielt. Die Menschen verbringen viel Zeit draußen, auf den Terrassen der Cafés, und darin ähneln sich die Städte. Ich erkenne auch einige schickere Viertel Istanbuls hier wieder, was ziemlich überraschend ist.
In allen drei Städten ähnelt sich die Lebensweise, genauso wie die Art und Weise, sich der Stadt anzunehmen, an Orten, wo nichts ist, die dennoch interessant, aber eigentlich nicht entworfene Übergangszonen sind. In Montréal finden sie sich z. B. unter Brücken oder in Bahngleisnähe. Montréal lässt sich gut auf ausführlichen Spaziergängen entdecken; diese Orte ziehen keine Touristenmassen an. In Berlin ist das ähnlich. Ich nehme mir nicht für einen Tag dieses oder jenes Denkmal vor, sondern entdecke sie zufällig beim Schlendern durch die Stadt. Und das mag ich sehr.

Du machst Ähnlichkeiten im Erscheinungsbild aus, doch wie ist es mit der bzw. den Sprachen?

David: In Berlin zu sein, ohne Deutsch zu sprechen, sorgt für etwas Unbehagen, da ich mich sehr als Tourist fühle, leider. Mir ist aufgefallen, dass es hier viele Menschen gibt, die von woanders kommen, und die Berliner daran gewöhnt zu sein scheinen, ins Englische zu wechseln. Für einen Québecer ist das ein wenig befremdlich, da er schnell Verlustängste und Entfremdung fühlt, da die Sprache in Québec gefährdet ist. Vielleicht ist das Deutsche in Europa dominant genug, als dass ihm das Verschwinden droht. In Istanbul ist das wieder anders. Die Menschen sprechen dort fast nur Türkisch. Sie sprechen kein Englisch und auch kein Französisch, weshalb sich Menschen aus dem Ausland darauf einstellen müssen.

Von der Sprache komme ich zur Literatur. Du schreibst Kurzgeschichten und Romane. Welche Themen interessieren dich beim Schreiben und wie fängst du an?

David: Es gibt zahlreiche Ausgangspunkte, ich werde mich aber auf die wichtigsten beschränken. Ich schreibe seit 2006 regelmäßig Kurzgeschichten, also schon ziemlich lange. Was immer wieder auftaucht, ist der Bezug zum Traum oder dem Traumhaften. Ich versuche mit meinen Texten beim Leser eine Reaktion zu bewirken ähnlich wie der eines Traums. Wenn wir aus einem Traum erwachen, gibt es etwas, das wir nicht verstehen, etwas Rätselhaftes, das uns aus der Bahn werfen, uns irritieren kann. Ein Traum kann uns emotional, weniger intellektuell, belasten, ohne dass wir verstehen, warum das so ist. Ich versuche genau so vorzugehen und finde dafür Inspiration bei surrealistischen Autoren wie Volodine, Kafka, Bolaño usw., die ebenfalls mit dieser Verbindung spielen. In meinem ersten Roman Frères gibt es Passagen, in denen das Reale bis zu einem gewissen Grad wie ein Albtraum wirkt. In allen meinen Büchern werden die Protagonisten von ihren eigenen Träumen beeinflusst. In meinem zweiten Roman träumen die Hauptfiguren – zwei Kinder –, dass sie in einer Art riesigem, stillgelegtem Labyrinth unterwegs sind. Am Ende scheint dieser Traum Realität zu werden, so als kontaminiere der Traum die Realität. Der Traum ist also ein wichtiger Baustein. Ein weiterer Ausgangspunkt ist das Gefühl von einer feindlichen Welt und von einer Welt, die auf ihren Untergang zusteuert. Dieses Gefühl von einer desaströsen Welt überträgt sich in ein inneres Desaster der Figuren. Sie sind innerlich so aufgewühlt, so als hätte sich die Welt ins Innere verlagert und sie versuchen nun, ihre eigenen Probleme und auch die Realität drumherum mit ungewöhnlichen Mitteln zu begegnen wie Transformation, Verlust des Menschlichen usw.

Um auf Träume zurückzukommen: Führst du ein Traumtagebuch?

David: Auf meinem PC gibt es einen Order mit Dutzenden meiner Träume. Ich habe sie aufgeschrieben, ohne sie zu deuten. Ich versuche, Träume losgelöst von der Psychoanalyse, die überall Zeichen und Deutungen sieht, zu betrachten. Ich mag das Irrationale an Träumen. Fréres ist zum großen Teil aus einem meiner Träume entstanden. Darin war ich in einer Lagune und habe einen Hundekadaver aus dem Meer gefischt. Im Roman fischen die Figuren einen Hundekadaver mit zerfleddertem Fell aus dem Wasser. Der Traum war die Grundlage für den Roman und auch bei meinem zweiten Buch En rampant war das so. Ich träume häufig, dass ich durch ein riesiges Haus laufe, in dem ich von einem Raum zum nächsten gehe und Geheimgänge finde. Das habe ich genutzt, um Dinge zu vermitteln. Die Träume nützen mir, um etwas zur Sprache zu bringen.

In Frères geht es um zwei Brüder, deren Entstehungsgeschichte ziemlich speziell ist. Sie hat etwas von einer Fabel oder vielleicht sogar von einem Zauber. Die Geschichte insgesamt ist relativ verschwommen. Sie bewegt sich quasi an der Grenze von Traum und Wirklichkeit, wie du es zuvor erläutert hast. Wie bist du in dieser Geschichte von zwei Brüdern vorgegangen?

David: Ich wollte eine eigene Mythologie erschaffen, nicht die griechische Mythologie oder die biblische aufgreifen, auch wenn sie davon inspiriert ist. In meiner eigenen Mythologie, die ohne Namen auskommt, finden sich katholische Motive wie Opfergabe wieder: Der eine Bruder entsteht aus dem abgetrennten Arm des anderen. Ein Opfer, das Leben schafft. Ich komme aus einer sehr katholischen Familie. Ich bin Atheist, wurde aber vom Katholizismus beeinflusst. Frères ist in gewisser Hinsicht ein Märchen oder eine Fabel, in der sich Spuren und Einflüsse von Büchern wie Pinoccio und Moby Dick finden. Die geschilderte Welt ist ähnlich, doch möchte Frères eine Fabel bzw. ein Märchen ohne Moral am Ende sein. Der finale sinnstiftende Moment bleibt aus. Frères ist vielmehr eine absurde Fabel.
Die Brüder gibt es, weil die Mutter befand, dass ihr Erstgeborener in dieser feindlichen Welt jemanden braucht und sie in einem Ritual aus dem abgetrennten Arm ihres Erstgeborenen einen zweiten Sohn entstehen lässt. Auch wenn meine Bücher ziemlich düster sind, enthalten sie stets das Bedürfnis nach einem anderen Menschen, um der Welt in ihrem ganzen Horror entgegenzutreten. Die Brüder sind zu zweit dank des Leben stiftendenen Opfers des ersten Sohns. Doch ganz genau weiß man es nicht. Einige Lesenden sagen, dass sie letztlich ein- und dieselbe Person sind und es den anderen nicht wirklich gibt. Wie der Roman gelesen wird, unterscheidet sich von Leser zu Leser.

Der Bruder soll ihm eine Stütze im Leben sein. Daneben stellt sich im Roman auch die Frage nach Identität: Wo kommen sie her bzw. von wem stammen sie ab? Sie begeben sich auf die Suche nach ihrem Vater, einem Menschenhund, der aus dem Meer gekommen war. Auch das hat etwas von einem Mythos.

David: Im Grunde ist Frères die Geschichte von zwei Brüdern, die sich auf die Suche nach ihrem Vater – eine Art echter oder vorgestellter Hund aus dem Meer ist – begeben. Während dieser Suche verliert einer der beiden seine Menschlichkeit, um sich so vielleicht seinem Vater zu nähern. Er wird zu einer Zwischenform zwischen Mensch und Hund. Ob er ganz Hund ist oder noch Mensch bleibt offen. Seine neue Identität setzt er aus gefundenen Dingen zusammen. Seinen fehlenden Arm, durch den er seinen Bruder bekommen hat, ersetzt er mit einem Teil von einem Hampelmann, eine Art Pinocchio. So setzt er sich nach und nach neu zusammen, wird letztlich sogar zu einem Monster, indem er sich eines Stocks bedient, an dessen einem Ende der Kopf eines Hampelmanns thront und an dem Tierfelle befestigt sind. Es ist eine Identitätssuche, bei der er sich vom Menschlichen entfernt. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen darin. Es ist der Versuch, seinem Vater näherzukommen, sich seine eigene Mythologie zu schaffen, indem mithilfe der Erzählung, der Fabel und des Animalischen die eigenen Wurzeln fantasiert werden. Der Hund symbolisiert darin das Umherirren, das Streunen in einer Welt, in der er sich unzähmbar, nicht unterwürfig und schwer zu fassen fühlt. In meinen Büchern ist dieser Gedanke sehr präsent, der Gedanke, dass die Menschen im 19. und 20. Jahrhundert kontrolliert, verstanden und beherrscht werden können, wobei die Welt doch eher unbeherrschbar ist und die Figuren andere Wege suchen, um ihren Platz zu verstehen und nicht unbedingt funktionieren.

Der Roman ist dreigeteilt in den Anfang, die Suche und schließlich die Rückkehr aufs Land, wo nach einer Transformation ein neues Leben beginnt. Dort gibt es auch eine Liebesgeschichte.

David: Das Abenteuer auf dem Meer ist eine Art düstere Odyssee zwischen Traum und Wirklichkeit. Was wahr ist und was nicht, ist nicht eindeutig. Nachdem das Schiff aufgelaufen ist, nimmt ihn, der in seiner Hundetunika wie ein echter Hund wirkt, eine Familie bei sich auf. Er lebt in einer Hütte, trifft bald auf eine Hündin mit grauem Fell, die wie er früher ein Mensch gewesen zu sein scheint. Sie wird von einer anderen Familie eingesperrt und gequält. Gemeinsam finden sie das Glück, versuchen als Tiere ein gemeinsames Leben zu leben. Seinen Bruder hatte er da bereits verloren und wir sprachen ja von der Notwendigkeit eines anderen Menschen. Er passt sich den neuen Gegebenheiten an. Doch auch die graue Hündin bleibt nicht an seiner Seite. Sie wird bei ihrem Fluchtversuch von Menschen getötet. An dieser Stelle wird die Liebes- zu einer Rachegeschichte und der hundgewordene Mensch entfernt sich noch weiter vom Menschen. Er wird wie sein Vater ein Hund, eine Art schwimmendes Meeresmonster, das nur noch monströser werden kann. Er greift sich die Tunika der grauen Hündin, seine eigene Tunika, Holzstücke und erschafft sich ein Selbst, in dem er die Menschen angreift, um sie zu vernichten. Das Finale seiner Entmenschlichung mündet in Gewalt, die der Gewalt der Welt entspricht, in die er lebt und die dabei ist, ihre Menschlichkeit zu verlieren.

Auch in deinem zweiten Roman geht es in gewisser Weise um Brüder – Samuel und Abel sind in einer brüderlichen Freundschaft verbunden – und auch die Hauptfigur durchläuft auf gewisse Art einen Prozess der Entmenschlichung.

David: Die Bücher stehen in einer Beziehung zueinander. Es ist nicht dieselbe Geschichte, doch tauchen dieselben Themen auf, die mich sehr beschäftigen. In beiden Büchern verbindet die Figuren ihr Verhältnis zu Tod und Krankheit. In En rampant erschufen die Freunde im Kindesalter eine imaginäre Welt, um der Realität zu entfliehen. Das Verhältnis zum Tierischen ist hier ein anderes als in Frères. Die Jungen sind von Insekten fasziniert, von allem, was kriecht und in Bodennähe unterwegs ist. Als nach einem Fahrradunfall der eine nicht mehr laufen kann, bewegt er sich kriechend fort. Kriechen ist für ihn positiv besetzt, bedeutet so zu sein wie Insekten im Unterschied zu den aufrecht gehenden Menschen. Dieser Unterschied ist stärker markiert als in meinem ersten Roman. Es ist eine Kritik der Menschen bzw. der menschlichen Zivilisation, die ins Leere, ins Nichts zu laufen scheint und das Kriechen erscheint hier als die metaphorische Möglichkeit eines anderen Wegs. Es steht auch im Alten Testament, wenn die Schlange die Frucht der Erkenntnis überreicht. In der Bibel kann die Schlange anfangs noch auf ihren Beinen laufen, doch dann bestraft Gott sie und sie muss kriechen. Es ließe sich also fragen, ob die Schlange metaphorisch nicht doch eine gute Figur war. Immerhin hat sie die Frucht der Erkenntnis übergeben. Ich spiele durch, ob es für die Menschen nicht besser wäre, wenn sie nicht immer aufrecht gehen würden, sondern sich von Zeit zu Zeit auch mal kriechend oder schlängelnd fortbewegen würden. Darin steckt eine zivilisatorische Ablehnung. In En rampant entfernen sich die Figuren vom Menschlichen und nähern sich den Insekten an, die sie ihr Leben lang begleitet haben.

Werden die Tiere in deinem Roman, die ihm in Istanbul als eine Art Publikum zuhören, in gewisser Weise nicht auch vermenschlicht?

David: Ganz genau. Und auch in Frères gibt es Raben, die plötzlich sprechen. Die Menschen entmenschlichen sich, während die Tiere menschliche Züge annehmen. In En rampant kommt eine Ziege ins Haus und lebt dort eine Weile. Schon auf den ersten Seiten richtet sich Samuel, der Erzähler, an ein Publikum aus Tieren – Insekten, Schlangen, Reptilien. Die Grenze zwischen Mensch und Tier ist verschwommen und das ganz bewusst als Möglichkeit, die Beziehung zwischen Mensch und Tier zu überdenken. Was sind wir wirklich in Bezug auf bzw. was beanspruchen wir im Vergleich zur Welt der Tiere? Sollten wir unseren Anspruch nicht herunterschrauben? Das zeigt sich in der Zurückweisung des Menschlichen seitens meiner Figur, die sich vermehrt an die Welt der Insekten und Reptilien heftet und weniger an die Welt der Menschen.

Hast du ein Lieblingstier?

David: Ich mag Tintenfische, Oktopusse mit ihren Tentakeln. Sie schmecken nicht nur gut, sondern sind auch faszinierende Wesen, wie sie sich mit ihren außerirdisch anmutenden Armen bewegen. Auf den ersten Seiten von Frères kommt einer vor. Sie haben etwas Ungeheuerliches, Faszinierendes und zugleich sehr Unmenschliches.

Hast du viel recherchiert, um die Tierwelt darzustellen?

David: Ich habe einige entomologische Bücher gelesen, also Bücher über Insekten. In En rampant geht es darüber hinaus auch um Affen, da sich die Hauptfigur in eine Primatologin, also einer Expertin für Affen, verliebt. Ich habe unglaublich viele Bücher der Primatologie gelesen, um das Verhalten von Affen zu verstehen, wobei wir Schimpansen in der Regel als sympathisch wahrnehmen, die wir an die Hand nehmen – so wie Michael Jackson –, doch wenn wir sie uns genauer ansehen, zeigt sich, dass sie Kannibalen sind und gewalttätig.

Weitere Aspekte in En rampant sind das Schreiben und Verschwörungstheorien. Wie kamen diese dort hinein?

David: Wie viele interessierte ich mich als Jugendlicher für die Freimaurerei mit ihrem Roten Kreuz und den anderen Symbolen und für die Kultur der Religion, aus der ich komme, auch wenn sie zu kritisieren ist. Im Roman verfasst die Figur eine Art falsche Verschwörungserzählung, an die er anfängt zu glauben. Um sie zu schreiben, habe ich das furchtbare Buch von David Icke, Das größte Geheimnis, gelesen – die Bibel für jene, die glauben, dass Schlangenmenschen die Menschen regieren. Es ist ein Bestseller, der sich in den USA millionenfach verkauft hat. Ich habe es gelesen und imitiert, habe Stellen daraus über Reptilien als kriechende Wesen in meinen Roman integriert. Ich habe auch noch ein paar Bücher aus der frankofonen Reihe L’aventure mystérieuse von J’ai lu gelesen, die meine Figuren lesen. In einem dieser Bücher wird behauptet, dass die Menschen von einem Insektenvolk abstammen. In einem anderen heißt es, sie stammen von einem Reptilienvolk ab. All diese Theorien, die diese Vorstellungswelt verbreiten, habe ich gelesen. Meine Figuren versuchen damit, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Sie interessieren sich schon als Kinder für die Welt der Reptilien, um die Krankheit und den Tod ihrer Väter zu erklären. Und als Erwachsene tun sie es wieder, scheitern aber bei dem Versuch, ihrer Existenz damit einen Sinn zu geben. Es ist eine Kritik an Verschwörungen, die der Welt einen Sinn verleihen, in dem sie verkünden: „Seht, ich habe eine Lösung, die auf Lügen basiert“.

Neben Romanen schreibst du auch Kurzgeschichten. Inwiefern unterscheidet sich das Schreiben einer Kurzgeschichte vom Verfassen eines Romans?

David: Es unterscheidet sich sehr. In einer Kurzgeschichte geht es um Knappheit. Ein erster Entwurf ist schnell geschrieben, darauf folgt das Verdichten auf wenige Seiten. Wenn ich in etwa weiß, worum es in einem Roman gehen soll und ich mich eine Woche allein einschließe, kann ich eine erste Romanfassung schreiben. Momentan arbeite ich an einem Kurzgeschichtenband und darin zählt wirklich jedes einzelne Detail. Je nach Form ist das Arbeiten ein ganz anderes. Jorge Luis Borges sagte vom Roman, dass es darin hauptsächlich ums Auffüllen geht. In einer Kurzgeschichte hingegen muss auf fünf Seiten alles gesagt werden, was es zu sagen gibt. Ich bevorzuge sehr knappe Kurzgeschichten, manchmal sind sie nur eine oder zwei Seiten lang. Sie sind sehr k, kommen gleich zum Punkt. Auch in Kurzgeschichten beschäftigen mich Themen wie das Traumhafte, die Verbindung zum Tierreich, Entmenschlichung, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Ich bin wohl im Kern ein Autor von Kurzgeschichten, was sich auf das Schreiben meiner Romane auswirkt, die ebenfalls knapp sind und mithilfe von Allusionen Dinge eher zeigen als sie zu erklären. Es gibt in ihnen auch kaum Zugang zu dem, was die Figuren denken. Wir sehen sie handeln und hören sie sprechen. Es basiert auf einer Verhaltenspsychologie, d. h. die Figuren bringen ihr Verhalten über ihren Körper zum Ausdruck anstelle über „er dachte“ und „er sagte“. Ihr Inneres zeigt sich in ihrem Verhalten und durch Metaphern und Wortspiele. Auch das habe ich wohl von der Kurzgeschichte übernommen, wo die Kürze der Form einen dazu bringt, das Ganze zu straffen.

Und zum Abschluss: Welche Bücher bzw. Autorinnen und Autoren aus der Québecer Literatur würdest du empfehlen?

David: Ich nenne drei. Einer der wohl besten zeitgenössischen Autoren Québecs ist der Anlgo-Québecer Jacob Wren. Auf Französisch erscheinen seine Bücher bei Le Quartanier. Er ist einer der wenigen Autoren, dem eine kluge Äußerung über Politik gelingt. In seinen fiktional-poetisch-theatralen Texten ist Politik vorhanden, die er kritisiert genauso wie die extreme Linke, und das sehr wortgewandt und dem gelebtem Aktivismus entlehnt, einem paranoischen Aktivismus, der sich selbst hinterfragt. Das gefällt mir überaus gut und ich finde seine Bücher super.
Die Zweite ist Lise Tremblay. La héronnière ist ein sehr gelungener Kurzgeschichtenband. Es ist wohl das heftigste Buch, das über die Québecer Identität und Kultur und die Beziehung zwischen Stadt und Land geschrieben wurde: La héronnière von Lise Tremblay.
Zuletzt noch ein Gedichtband aus den 1940ern: La vièrge incendiée von Paul-Marie Lapointe. Ich denke, es ist die schönste Gedichtsammlung in der Québecer Dichtung mit surrealistischen Einflüssen und besser als die meisten surrealistischen Gedichtbände aus Frankreich bzw. Europa aus der Zeit. Seine Bilder sind mir eine Quelle der Inspiration.