An einem kühlen Herbsttag hatte ich mich mit Jérôme Minière in dem überaus netten Café fixe verabredet. Es ist ein Ort, an dem Jérôme Minière einige Seiten seines Romans geschrieben hat. Bei Tee und leckeren Plätzchen erzählte er mir wie er sich für Québec entschieden hat und warum er die Geschichte des Romans in seinem Montréaler Viertel verortet hat. Zudem verriet er mir, wie er zu der außergewöhnlichen Struktur in L’enfance de l’art gekommen ist.
In Québec kennt man dich als Musiker und mit L’enfance de l’art lernt man dich nun auch als Autor kennen. Wie hast du dich damals für Montréal und Québec entschieden?
Jérôme: Ich bin Franzose, bin aber vor 20 Jahren zum ersten Mal nach Québec gegangen. Das war Ende 1995. Zwischen 1995 und 2000 bin ich zwischen Frankreich und Québec hin und her gependelt. Ich wusste damals noch nicht, ob ich bleiben würde. Hierher kam ich wegen einer Liebesgeschichte. Meine damalige Freundin lernte ich während des Studiums kennen, daraufhin habe ich die Einwanderung beantragt. Bis ich meine Papiere erhielt, vergingen drei Jahre. Ich hatte mein Studium beendet und bin im Winter hier angekommen. Nach der Zeit der Fernbeziehung zogen wir gleich zusammen. Als der Winter vorbei war, war auch unsere Beziehung am Ende und ich begann zu überlegen, was ich nun machen sollte, ich war ja wegen ihr gekommen. Letztendlich bin ich geblieben.
Du bist also geblieben und hast mit der Musik begonnen. Nun ist dein erster Roman erschienen. Der Protagonist Benoît Jacquemin ist jemand, der sich selbst auf der ersten Seite als sehr gewöhnlich beschreibt. Er ist bei einer Bank angestellt, er lebt in einer Beziehung und er stürzt sich in keine außergewöhnlichen Abenteuer. Allerdings steht er kurz vor einer entscheidenden Veränderung in seinem Leben, denn er möchte mit seinem Partner ein Kind adoptieren. Ist dieser Kontext Auslöser für all das, was ihm im Roman passieren wird?
Jérôme: Nein. Für mich war es interessant, den Roman mit einem durchschnittlichen, gewöhnlichen Menschen zu beginnen, der letztlich in die Fiktion abgleitet, ohne dass man es wahrnimmt. In die Fiktion abgleiten kann bedeuten, verrückt zu werden. Wir nähren uns alle an der Fiktion, aber wir wissen, dass es ein Film, ein Buch oder etwas anderes ist. Im Leben des Protagonisten breitet sich die Fiktion nach und nach aus. Der Auslöser dafür ist die Begegnung mit einem seltsamen Obdachlosen.
Bevor er auf ihn trifft, begegnet er einer Brieftaube. An ihrem Bein entdeckt er ein Röhrchen und entnimmt diesem eine Nachricht, die er nicht entschlüsseln kann. Daraufhin sucht er den Besitzer der Taube entlang der Plaza Saint-Hubert. Er trifft dort auf eine chinesische Ladenbesitzerin und schließlich auf den Obdachlosen, der Duc genannt wird. Inwieweit hat dich die Gegend rund um die Plaza Saint-Hubert inspiriert?
Jérôme: Dort gibt es viele Leute, weil die Gehwege auf Höhe der Plaza mit all den Geschäften überdacht sind. Man kann dort also im Winter wie im Sommer bei Schnee oder Regen problemlos einkaufen gehen. Es ist keine außergewöhnliche Straße, sie ist auch nicht wirklich hübsch. Ausgewählt habe ich sie, weil ich in der Nähe wohne und oft dorthin gehe. Es ist eine Straße, die für mich sehr interessant ist, weil die ansässigen Geschäfte sehr durchmischt sind. Es ist eine Straße mit den unterschiedlichsten Dingen, mit mehr oder weniger interessanten Geschäften und das ist insgesamt sehr spannend. Für mich ist es die Hauptstraße in meinem Viertel. Es ist nicht wirklich eine Straße, die ich sofort mochte. Ich kann auch nicht sagen, dass ich sie jetzt liebe, aber weil ich dort viel unterwegs bin, entschied ich mich, meinen Roman dort spielen zu lassen.
In dieser Gegend gibt es wirklich viele Tauben, viele Obdachlose, Leute, die manchmal in einer Parallelwelt zu sein scheinen und die sich außerhalb der geregelten Bahnen der Gesellschaft befinden. Dieser Gedanke faszinierte mich. Die Tauben lieferten den Startschuss, denn Brieftauben gibt es noch sowie deren Züchter, die sich um die Tiere kümmern. Also sagte ich mir, dass es doch amüsant wäre, wenn es einen Obdachlosen auf dieser Straße gäbe, der der Herr über all diese Tauben ist. Zudem war es mir wichtig von einer real existierenden Straße auszugehen und von einem Stadtviertel, das es wirklich gibt, also von etwas Konkretem sowie von einem Menschen, der ein ganz normales Leben lebt. Daraufhin folgen dann merkwürdige, komische oder fantastische Dinge.
Der Duc führt den Protagonisten an einen Ort, der vor anderen verborgen ist. Er beschreibt ihn später als einen Ort des Übergangs für jene, die auf der Suche nach etwas oder sich selbst sind. Es ist ein inoffizieller Unterschlupf für Künstler und Außenseiter. Brauchen wir alle so einen Ort, sei er nun real oder imaginär?
Jérôme: Das weiß ich nicht, aber in unserem Leben heutzutage ist es als befänden wir uns auf einer Autobahn, auf der man schnell unterwegs ist und wenn man am Seitenrand der Straße anhält, offenbaren sich einem andere Orte.
Der Ort im Roman ist phantasiert. Vielleicht geht es auch um die Frage nach der Phantasie in einer Welt, die sehr gesättigt ist. Heutzutage sind wir durch all die Reize und Informationen überlastet. Die Phantasie befindet sich nicht mehr dort, wo man sie sich vorstellt. Manchmal befindet sie sich in einem Buch, manchmal in einer Begegnung mit einem Obdachlosen, der am Rand der Gesellschaft steht, also außerhalb des Systems. Vielleicht ist er ein Guru, vielleicht ist er gefährlich. Man weiß es nicht. Ich mag den Gedanken, dem was als alternativ oder Underground bezeichnet wird auf den Grund zu gehen. In unserer heutigen Zeit, vor allem seitdem das Internet existiert, befindet sich alles überall. Der Duc ist jedoch nicht im Internet zu finden. Er befindet sich außerhalb der Schnellspur.
Gleich zu Beginn des Romans spricht deine Hauptfigur den Leser an. Im Verlauf der Geschichte wird er dann selbst ein Leser von sechs unterschiedlichen Geschichten, die den Erzählstrang der eigentlichen Handlung unterbrechen. Es ist eine Struktur des mise en abyme. Wie bist du auf sie gekommen?
Jérôme: Ich war schon immer von den Strukturen des mise en abyme fasziniert, sei es nun in der Literatur oder im Kino, und von Symmetrien, von verborgenen Dingen, die sich als Motive wiederholen. Als ich dann mit meinem Verleger Tristan Malavoy zu arbeiten begann, hatte ich das Projekt einen Erzählband zu schreiben. Für einen Roman hätte ich die Kurzgeschichten miteinander verknüpfen müssen und ich glaubte, dass das für meinen ersten Roman zu schwierig wäre, dass es mir nicht gelingen würde, alle zu verknüpfen. Die Geschichte, die man die Hauptgeschichte nennen kann, wollte ich gar nicht behalten, weil sie zu komplex war. Nach dem Treffen machte ich mich an die Arbeit und so hat sich die Struktur durchgesetzt. Ich habe natürlich viel daran gefeilt, dass es insgesamt funktioniert.
Meine Vorliebe für solche Strukturen stammt aus der Zeit, als ich ein Jahr lang Literatur studierte und schon in der Schule hatte ich einen leidenschaftlichen Lehrer, der mir die Literatur als Untersuchung näher brachte. Als Jugendlicher waren die Künste für mich eine Quelle der Inspiration. Neben der Inspiration gab es aber noch etwas anderes, denn Nichts wurde vom Autor dem Zufall überlassen, so die These der Lehrer. Damals war ich damit nicht einverstanden. Aber nach einigen Analysen von Büchern musste ich zugeben, dass der Autor beim Schreiben Entscheidungen getroffen hat, unbewusst oder bewusst.
Ich habe zwei bis zweieinhalb Jahre an dem Buch geschrieben. Und dass die Struktur stimmt, war sehr wichtig. Bis zum Schluss war ich mir unsicher, ob es mir gelingen würde, dass es nicht zu gewollt herüber kommt, vor allem das Ende. Denn der Anfang führt zum Ende und das Ende führt schließlich wieder zum Anfang.
Was hat es mit der literarischen Figur des Réjean Ducharme in deinem Roman auf sich, der ja wirklich existiert hat?
Jérôme: Réjean Ducharme ist einer von Vielen im Buch, denn ich interessierte mich für weitere Persönlichkeiten der realen Welt, die aber zweideutig bzw. unergründlich oder undefinierbar sind. Réjean Ducharme ist ein sehr bedeutender Autor in Québec, der allerdings anonym ist. Es existieren ein oder zwei Fotos von ihm, wobei man nicht sicher ist, ob es echte Fotos sind. Er lebt zweifelsohne noch, aber es gibt keine Neuigkeiten von ihm. Er taucht nirgends in der Öffentlichkeit auf, ich glaube, es gibt auch keine Interviews mit ihm. Um ihn herum herrscht ein Rätsel. Das passt genau zum Roman, wo er selbst eine Art Täuschung ist, die Benoît Jacquemin seinerseits in eine Täuschung führt.
Weitere Persönlichkeiten, die mehr oder weniger fiktiv sind, aber real existieren, sind im Buch z.B. Carlos Castaneda. Er war Ende der 1960er ein Anthropologiestudent in Kalifornien, USA. Es war die Zeit der Gegenkultur, der Hippies usw. Seine Abschlussarbeit in der Anthropologie schrieb er über einen mexikanischen Schamanen. In den 1970ern schrieb er weitere Bücher. Interessant an seinem Werk fand ich, dass er mit der Zeit abdriftete. Meine Eltern hatten seine Bücher und ich habe sie vor knapp zehn Jahren gelesen. Als ich beim dritten oder vierten Buch ankam, habe ich aufgegeben, weil sie mir Angst machten. Sie sahen wie wissenschaftliche Dokumente aus, aber es gab einige Momente, in denen er ins Leere abgleitete oder in denen er die Kontrolle über seine Träume übernahm. Er ging von etwas Rationalem aus und wurde zum Schluss eine Art Guru, ein Hippie der 1970er Jahre. Ende der 19990er Jahre ist er gestorben.
Dann ist da noch Monty Cantsin. Er ist eine fiktive Person, die in Montréal geschaffen wurde als Teil einer, wenn du willst avantgardistischen Kunstbewegung Ende der 1990er Jahre, die Néoisme genannt wird. Der Grundgedanke war, eine leere Persönlichkeit zu schaffen, die jeder nutzen bzw. für sich beanspruchen konnte. Ich fand, dass er sich gut in mein Projekt integrieren lässt. Der Duc ist all diesen Mystifizierern, Magiern und Hexern, den Menschen am Rande des Verstandes oder der Fiktion nah.
Dahinter verbirgt sich auch eine Sozialkritik. Ich habe den Eindruck, dass die Fiktion heute überall genutzt wird. Wenn z.B. ein amerikanischer Präsident gewählt oder ein Krieg verkündet wird oder jegliche andere Art von alltäglichen Themen, erzählt man uns ein Szenario, eine Geschichte, die unsere Emotionen anspricht. Wenn man die Geschichten glaubt, akzeptiert man z.B. dass sich das eigene Land im Krieg befindet. Darin liegt meiner Meinung nach das Problem. Es gibt die großen Religionen, wo die Menschen an die Wahrhaftigkeit eines Buches glauben. Ich beurteile das nicht, aber ich interessiere mich für die Geschichte und die Fiktion. Man kann viele fiktive Geschichten mögen, aber sie sind eben fingiert. Diese grenzwertigen Persönlichkeiten, die ich beschreibe, sind Leute, die den Glauben ausnutzen, um eventuell Macht über Andere zu haben. Ich liebe die Fiktion, wenn sie zugibt, dass sie Fiktion ist, denn ansonsten wird sie zu einer Waffe. In meinem Buch und mit seiner Struktur möchte ich den Leser in eine ansprechende Falle führen.
Mit diesem Schlusswort bleibt mir nur noch eine Frage zu stellen, die bereits typisch für quélesen geworden ist: Hast du Lieblingsautoren oder -werke der Québecer Literatur?
Jérôme: Was das angeht, bin ich wohl ein Ausnahmefall, weil ich nicht hier in Québec geboren bin. Ich lese Autoren von überall auf der Welt. Speziell aus Québec fällt mir z.B. der Bestseller L’histoire de Pi von Yann Martel ein. Er handelt ebenfalls von Fiktion und wahrer Geschichte sowie von Glauben. Es ist für mich ein sehr wichtiges Buch. Von den Büchern von Réjean Ducharme empfehle ich L’avalée des avalés. Und dann möchte ich noch Nikolski von Nicolas Dickner nennen.