Interview mit Tristan Malavoy-Racine

30. März 2014 | nachgefragt

Tristan Malavoy-Racine, Journalist beim Québecer Magazin L’actualité, Sänger, Autor (zwischen 2001 und 2006 erschienen drei Gedichtbände von ihm beim Québecer Verlag Triptyque), schrieb einen Artikel über die Dichtung in Québec für die erste Ausgabe des Online-Magazins Cousins de personne und ist Herausgeber der Reihe Quai n° 5 bei XYZ. In der vergangenen Woche war er für wenige Tage in Berlin unterwegs und ich habe ihn in einem netten Café in Berlin Friedrichshain getroffen.

Wie ist dein erster Eindruck von Berlin?

Tristan: Wie fast jeder bin ich entzückt und sehr angetan von der Stadt, in der man spürt, dass verschiedene Jahrhunderte und Epochen sich überschneiden sowie auch die Kulturen. Die Kulturen, als Teil der Signatur von Berlin, sind, glaube ich, insbesondere für uns Montréaler sehr bewegend. In Montréal findet man ebenfalls diese Verknüpfung der Kulturen und Künste, natürlich mit einigen Geschichtsepochen weniger.

Die Literatur in Québec ist in der Welt wenig bekannt. Was bräuchte sie deiner Meinung nach, um mehr Interesse zu wecken?

Tristan: Ich glaube, dass das Problem nicht in den Worten, also in der Québecer Literatur selbst liegt. Das Problem befindet sich eher in der Distribution, der Verbreitung. Unser erster Markt im Ausland ist natürlich Frankreich. Es gibt einige Durchbrüche, die gelingen, aber der französische Buchmarkt ist doch sehr protektionistisch. Für uns Verleger aus Québec ist es sehr sehr schwierig ein Buch auf direktem Weg in Frankreich in Umlauf zu bringen. Man könnte glauben, dass der Markt in Frankreich aufgrund der kulturellen Nähe und der Sprache den Québecer Verlegern offen stünde, aber das ist nicht der Fall.
Die Dinge entwickeln sich langsam. Man muss der Zeit Zeit geben, “il faut donner du temps au temps”, wie man in Québec sagt. Während all der Literaturfestivals, Salons du livre und Lesungen werden Verbindungen geknüpft, Brücken entstehen und ich hoffe, dass es in den nächsten Jahren für das Québecer Buch einfacher wird zu zirkulieren. Ich hoffe, dass dem Québecer Buch das gelingt, was wir bei dem Buch aus Skandinavien, Schweden oder Norwegen beobachten konnten, wo z.B. Henning Mankell einen großen Erfolg, einen Welterfolg hatte.

Die Kulturszene in Montréal ist eine sehr pulsierende und vielfältige. Es finden das ganze Jahr über Veranstaltungen und Festivals statt. Könnte man sagen, dass Montréal in Québec das kulturelle Zentrum im Bereich der Literatur ist?

Tristan: Gilles Vigneault ist ein berühmter Dichter bei uns. Er kommt aus Natashquan, einer kleinen Stadt in der Region Côte-Nord, die sehr weit von Montréal entfernt ist. Eines Tages sagte jemand zu ihm: „Aber sie kommen aus Natashquan. Das ist weit weg, Natashquan.“ Gilles Vigneault erwiderte darauf: „Das ist weit weg wovon?“ Weit weg wovon? Nichts ist weit entfernt von nichts. Ich möchte damit sagen, dass Montréal natürlich eine Stadt ist, die in Québec wirtschaftlich und kulturell bedeutend ist wie jede Metropole. Sie ist nicht die Hauptstadt der Provinz Québec aber sie ist unter wirtschaftlichen und kulturell-ästhetischen Gesichtspunkten die wichtigste Stadt. Also muss man sein Augenmerk darauf richten, was in Montréal geschieht. Sie ist eine der interessantesten Städte in Nordamerika, die sich zunehmend im Bereich der Musik und des Tanzes etabliert. Montréal ist eine der Welthauptstädte des Tanzes. Und auch im Bereich der Literatur tut sich Einiges. Aber ich als jemand, der zwar in Montréal lebt, der aber aus Saint-Denis-de-Brompton, also der Region Canton-de-l’Est kommt, bin einer der Ersten, der sagt, dass man auch schauen muss, was woanders passiert.

Du bist Herausgeber der Reihe Quai n° 5 bei XYZ, in der bis jetzt drei Romane erschienen sind. Vertiges von Fredric Gary Comeau war im vergangenen Jahr die erste Publikation. Was kennzeichnet die Reihe aus?

Tristan: Ich bade buchstäblich schon immer in der Literatur aber ich interessiere mich natürlich auch sehr für die Musik und die bildende Kunst, auch für andere Formen der Kunst und deshalb wird man in der Reihe Quai n° 5 oftmals Bücher finden, die den verschiedenen Kunstformen einen Platz einräumen bzw. in denen die Literatur mit der Musik und der bildenden Kunst interagiert. Vertiges ist hierfür ein gutes Beispiel, weil es darin um Kultur, bildende Kunst, Dichtung und Musik geht. Am 14. April erscheint das 4. Buch in der Reihe. Darin geht es dieses Mal um das Kino. In den ersten 4 Büchern treffen sich also die anderen Künste mit der Literatur zum Rendez-vous. Wenn ich an die kommende Herbstsaison denke, in der es einen kleinen Roman mit dem Titel Notre Duplex geben wird, der voraussichtlich im September erscheint, ist erneut das Milieu des Kinos präsent.
Für den Namen der Reihe, Quai n° 5, gibt es zwei oder drei Erklärungen, aber er kommt hauptsächlich von einer Veranstaltung, die ich im Rahmen des Festival international de la littérature vor einigen Jahren organisiert habe eben unter dem Namen Quai n° 5. In der Show verbanden sich Literatur und Musik miteinander. Mit dabei waren Yann Perreau, Mara Tremblay, Fredric Gary Comeau, Stéphanie Lapointe und die Dichterin Renée Gagnon. Es war ein literarisches und musikalisches Zusammentreffen. In der Reihe möchte ich ein wenig diese Art von Aufeinandertreffen aufnehmen. Was noch interessanter ist, ist dass bei der Auflistung der Künste die Literatur an 5. Position erscheint. Ich weiß nicht, ob das im Deutschen so ist, aber im Französischen ist oft von der 7. Kunst die Rede, um das Kino zu bezeichnen, beim Comic ist die Rede von der 9. Kunst. Quai n° 5 steht für einen Punkt des Abschieds oder der Ankunft, etwa an einem Bootssteg oder einem Bahnsteig, für die Literatur.

Hast du zurzeit ein Lieblingsbuch?

Tristan: Ich möchte Pourquoi Bologne von Alain Farah erwähnen. Die Sprache ist sehr kreativ. Der Autor kreuzt zwei Epochen in Montréal um die Universität McGill und er hat eine sehr geschickte écriture. Der Roman ist beim Verlag Le Quartanier erschienen. Dann möchte ich Le mur mitoyen von Catherine Leroux nennen. Catherine Leroux veröffentlicht beim Verlag Alto. Es ist ein Roman, der an drei verschiedenen Orten spielt und auch hier ist es eine sehr geschickte Geschichte, in der es um die amerikanische Politik, um verschiedene aktuelle Fragen geht, die Québec und auch die Francophonie betreffen. Die Sprache ist wirklich gut und sie weiß wie man Geschichten erzählt. Meiner Meinung nach werden wir noch viel von Catherine Leroux lesen. Zuletzt möchte ich noch einen Gedichtband nennen. Maude Smith Gagnon hat vor einigen Jahren den Prix du Gouverneur général für Dichtung erhalten und gerade ist ein neuer Gedichtband von ihr erschienen. Den habe ich noch nicht gelesen, aber das werde ich schnellstens tun.

Zur Website von Quai n° 5 geht es hier, und zur Rezension zu Vertiges, ausgezeichnet mit dem Prix Jacques-Cartier du roman et de la nouvelle de langue française 2013, auf quélesen hier.