Interview mit Christian Guay-Poliquin

30. April 2021 | nachgefragt

Berlin 2018. Ich treffe mich mit Christian Guay-Poliquin in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs. Wir spazieren an einem ziemlich kalten Tag im Januar durch eine graue Stadt. In einem Café in Mitte wärmen wir uns auf. Wir bereiten uns auf eine gemeinsame Veranstaltung am Abend vor und ich nutze die Gelegenheit auch für ein Interview. Christian Guay-Poliquin ist Jahrgang 1982 und kommt aus Québec. Er studierte Literaturwissenschaften in Montréal und in Reims, Frankreich. Von ihm sind die Romane Le fil des kilomètres und Le poids de le neige. Sein zweiter Roman ist in der Übersetzung von Sonja Finck und Andreas Jandl inzwischen bei Hoffmann & Campe erschienen. Wir sprechen über die beiden Bücher und die dortige Literaturszene. Zuerst möchte ich aber wissen, woher er kommt.

Du wohnst in Saint-Armand. Wo genau ist das?

Christian: Saint-Armand ist ein kleines Dorf im Süden von Québec, nahe der dort gerade verlaufenden Grenze. 800 Meter weiter sind schon die USA. Wenn ich zuhause aus dem Fenster schaue, sehe ich auf der einen Seite Wald und auf der anderen die USA. Bis Montréal dauert es mit dem Auto etwa eine Stunde. Die Stadt ist also nah, auch wenn wir mitten im Wald leben. Ich bin dort aufgewachsen und ironischerweise bin ich an den Ort zurückgekehrt, an dem ich aufgewachsen bin. Es gefällt mir, im Wald zu leben, in diesem abgelegenen Dorf.

Was waren die Gründe für den Umzug von der Stadt aufs Land?

Christian: Es gab mehrere Gründe dafür, ausschlaggebend war aber, dass ich versuchen wollte – und versuchen möchte ich betonen -, mein Leben ruhiger zu leben. Als ich 17 Jahre alt war, bin ich nach Montréal gegangen und 17 Jahre später, in denen ich auch viel unterwegs war, habe ich die Stadt wieder verlassen. Irgendwann möchte man das Leben ruhiger angehen, näher an der Natur sein, einfache Dinge tun, wie den Hof freischaufeln. Man genießt das Leben anders. Gleichzeitig ist es von Vorteil, dass Montréal nur eine Stunde entfernt ist. Man ist allerdings auf ein Auto angewiesen, um Zugang zum Kulturangebot in der Stadt zu haben. Mein gesellschaftliches Leben findet hauptsächlich in Montréal statt. So wie ich das sehe, ist mein Zuhause auf dem Land und wenn ich in die Stadt fahre, komme ich bei Freunden oder in meinem Atelier unter. Es ist das umgekehrte Klischee von dem Haus in der Stadt und der Hütte auf dem Land.

Du hast zwei Romane veröffentlicht, beide bei La Peuplade. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Verlag?

Christian: Das ist eine simple Geschichte, die damit zusammenhängt, wie das mit meinem ersten Roman gelaufen ist, an dem ich immerhin zehn Jahre geschrieben habe. Zehn Jahre lagen zwischen meiner Entscheidung, ein Buch zu schreiben und dem Moment, in dem ich es an Verlage geschickt habe. Das Projekt hat sich mehrmals verändert. Zum Glück habe ich Freunde und Kollegen, die mein Manuskript gelesen haben und die mir gesagt haben, es sei nicht gut genug, noch nicht ausgereift, noch nicht bereit, mehrfach. Also habe ich das meiste wieder verworfen, habe nur einzelne Dinge behalten. Nach zehn Jahren, in denen ich es immer wieder überarbeitet habe, aus vier verschiedenen Projekten eins gemacht habe, hatte ich das Gefühl, am Ende angekommen zu sein. Es ergab ein Ganzes, das ich an fünf Verlage geschickt habe. Zwei davon haben sich relativ schnell bei mir gemeldet, und dabei habe ich einiges verstanden.
Ich erzähl dir die ganze Geschichte: Ich bekam einen Anruf von einem etablierten Verlag, man könnte sagen einem Vertreter der alten Schule, ohne das abwertend zu meinen. Er sagte, sie würden mein Manuskript mögen und es gern veröffentlichen, es sei ein solider erster Roman usw. Dann sagte er, er wolle, dass ich weiß, dass der Roman wohl nicht über die Québecer Literaturszene hinaus wirken würde, ich sei ja noch ein junger Autor. Ich schluckte. Und er riet mir, ich solle keine zu hohen Erwartungen haben, es sei eben die Québecer Literatur und der ginge es nicht so gut. Sie würden mich mit Freude veröffentlichen, aber… Es war ein große Warnung vor dem literarischen Milieu, in das sich der Roman einfügen würde. Und ich habe seinen Diskurs verstanden. Ein paar Tage später bekam ich einen weiteren Anruf. Dieses Mal von einem noch jungen Verlag namens La Peuplade. Sie erzählen mir, sie würden mein Manuskript gut finden und es gern veröffentlichen usw. Dennoch müssten sich mich vorwarnen, dass es der Québecer Literatur gerade nicht so gut ginge. Sie wollen aber versuchen, Lösungen zu finden, sie wollen die Dinge anders machen, den Blick auf den internationalen Markt richten, vielleicht die Messen hier außer Acht lassen und sich auf andere Dinge konzentrieren. Kurz gesagt: Sie wollen es angehen und dafür sorgen, dass die zeitgenössische Literatur ihren Platz bekommt. Die Entscheidung war einfach. In beiden Fällen hieß es, das literarische Milieu sei gerade schwierig. Die Haltungen dazu waren aber sehr verschieden: die eine passiv und die andere ziemlich proaktiv und gewillt, etwas zu versuchen, um die Szene wiederzubeleben. Das ist jetzt fünf, sechs Jahre her und ich glaube, dass die Szene der Québecer Literatur durch all die kleineren Verlage bereichert wurde, die zwischen 2005 und 2015 dazu gekommen sind. Sie haben für frischen Wind gesorgt. Die Szene ist dynamischer geworden, sie ist in Schwung gekommen, vielleicht weniger in Bezug auf ihre Wirtschaftlichkeit, aber darum geht ja auch nicht ausschließlich in der Literatur. Das ist ein positiver Trend und La Peuplade macht einen ausgezeichneten Job. Wenn es eine gute Entscheidung in meinem Leben gibt, dann die, mit ihnen zu arbeiten.

Deine Romane sind Le fil des kilomètres und Le poids de la neige. In deinem ersten Roman begegnen die Leser einem Protagonisten, der ein einsames und abgeschottetes Leben führt. Erzähl mehr!

Christian: In meinem ersten Roman geht es im Grunde um das Innenleben meiner Hauptfigur. Er ist ein Mechaniker, der in einer großen Raffinerie arbeitet, der, wie alle Arbeiter, in einer Art Campingwagen lebt. Die Unterkünfte sind dicht aneinandergedrängt. Er lebt schon eine ganze Weile dort. Er möchte seinen kranken Vater wiedersehen, der am anderen Ende des Kontinents lebt, also über 4000 Kilometer weit weg, und den er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat.
Die Geschichte ist simpel und es gibt sie in der Literatur in tausend Versionen: die Geschichte von jemandem, der seinen Vater wiedersehen möchte. Mein Roman handelt also von einer persönlichen Suche. Der Auslöser, der die Geschichte ins Rollen bringt, ist der Stromausfall gleich zu Beginn. Ohne Strom bleibt alles stehen. Die Arbeiter werden nach Hause geschickt. Auch der Protagonist, weil er nichts mehr zu tun hat. Zu Hause beschließt er plötzlich, ins Auto zu steigen. Ihm wird bewusst, wie armselig sein Leben ist, wie verzweifelt er innerlich ist und so entscheidet er in einem mutigen Moment, seine Vergangenheit und seine Fehler ruhen zu lassen und zu seinem Vater zu fahren, bevor es zu spät und er tot ist. Er bricht auf, hat über 4000 Kilometer vor sich, die ihn von seinem Vater trennen.
Der Stromausfall kümmert ihn gar nicht, aber je weiter er kommt, desto klarer wird, dass das Problem flächendeckend ist und nicht behoben wird. Zu Beginn scheint der Ausfall belanglos zu sein, aber dann verkompliziert er die Reise des Protagonisten, und bezogen auf die Erzählung sorgt er dafür – und genau darum mag ich den Stromausfall -, dass der Mechaniker seinen Blick nicht nur nach Innen richtet, sondern auch auf die vom Ausfall hervorgerufenen sozialen Umbrüche. Es ist aber keine postapokalyptische Welt, auch wenn einige für sie typische Themen anklingen. Es ist eine Erzählung der Reise des Protagonisten – im Grunde ist es eine Road-Novel -, der unbedingt seinen Vater wiedersehen möchte, während ein Stromausfall das ganze Land lahmlegt.

Am liebsten möchte er die ganze Strecke allein und in einem Rutsch hinter sich bringen.

Christian: Das ist wohl sehr nordamerikanisch. Entfernung bringt man hinter sich. Sie ist banal. Wenn man einen weiten Weg vor sich hat, bringt man ihn hinter sich. Wozu anhalten? Als der Strom ausfällt, hat der Protagonist plötzlich das dringende Bedürfnis, seinen Vater zu sehen. Die Dringlichkeit treibt ihn an. Er hält nicht an, nur wenn es wirklich nötig ist. Das ist auch typisch, wenn man von Québec gen Westen aufbricht. Mit dem Autor dauert es vier Tage und man hält kaum an. Als ich jünger war, bin ich die Strecke oft gefahren, mit mehreren im Auto, sodass man sich beim Fahren abwechseln kann, nur wenig stoppen muss und die tausende Kilometer hinter sich bringt. Im Roman gibt es aber keine geografische Verortung.

Die Kapitel sind mit Zahlen überschrieben und man merkt schnell, dass sie die Kilometer angeben. Manchmal ändert sich die Zahl nicht. Auch in deinem zweiten Roman sind die Kapitel mit Zahlen überschrieben. Dort sind es aber keine Angaben von Kilometern.

Christian: Das ist eine kleine, alles in allem ziemlich banale und einfache List, um die Kapitel anders als mit 1, 2, 3 oder mit Titeln wie Kapitel 1: Die Entscheidung, Kapitel 2: Die Angst usw. zu überschreiben. Ich versuche, die Konvention von nummerierten oder betitelten Kapiteln für die Fiktion zu nutzen, aber auf mehrdeutige Art und Weise, nämlich wenn ein Moment der Ungewissheit für die Leser entsteht. Nehmen wir z.B. das Kapitel 430 gefolgt von Kapitel 583. Als Leser glaubt man automatisch, der Protagonist ist weitergefahren. Es ist ein Spiel mit Raum und Zeit. Dasselbe gilt für die Höhe des Schnees in Le poids de la neige. Ich habe die Maßangabe zwar weggelassen und nenne nur Zahlen, aber man kommt darauf, dass die Höhe des Schnees angegeben wird. Es ist ein Spiel mit der Zeit. Wenn etwa zwei Kapitel aufeinanderfolgen, die 531 heißen, kann das bedeuten, es ist derselbe Tag. Vielleicht sind aber auch sechs Tage vergangen, an denen es nicht geschneit hat. Die Mehrdeutigkeit verleiht der Erzählung Raum. Und es braucht Raum, um Indizien zu trauen, um zu wissen, wo man sich befindet. Und es braucht eine Komplizenschaft in der mehrdeutigen Beziehung zum Leser. Es geht darum, eine bestimmte Stimmung, eine gewisse Unsicherheit zu schaffen, die die Geschichte dennoch bereichert und nicht darum, die Aufeinanderfolge der Ereignisse einfach zu beschreiben.

In deinem zweiten Roman herrscht ebenfalls Stromausfall. Ein schwer verletzter Mann wird nahe eines Dorfs gefunden. Die Anwohner versorgen ihn und bringen ihn zu einem älteren, dort gestrandeten Mann, der sich um ihn kümmern soll. Knüpft der Roman an Le fil des kilomètres an?

Christian: Ich habe zwei Romane geschrieben, und einen dritten in der Mache, die zusammenhängen. Dennoch ergeben sie keine Trilogie. Es sind auch keine Fortsetzungen oder Teile. Es war so nicht vorgesehen. Als ich Le poids de la neige geschrieben habe, kam ich irgendwann nicht mehr Drumherum, ihn mit dem ersten Roman in Verbindung zu bringen, einfach deshalb, weil es den Stromausfall gab. Das hatte was, denn durch den Stromausfall in einer nahen Zukunft gab es eine Art Verschiebung zur Gegenwart, die mir erlaubte, einige Dinge ins Licht zu rücken. Der Stromausfall liefert den Kontext, etwas Bestimmtes hervorzuheben, ob das nun in Le fil de kilomètres die Suche des Vaters ist oder in Le poids de la neige die Beziehung zwischen dem Alten und dem Verletzten. So ergab sich auch der Gedanke, denselben Erzähler zu wählen. Die Verbindung besteht eigentlich darin, dass die Geschichte weitererzählt wird. Sie ist in jedem Roman aber unabhängig voneinander geschrieben. Jeder Roman ist in sich geschlossen und die Lektüre beider Bücher ist nicht erforderlich. Es gibt auch keine Reihenfolge. Es geht um das Erkunden gewisser Themen, denn ich hatte den Eindruck, nicht alles erzählt zu haben, was der Stromausfall mir angeboten hatte. Und der Protagonist, der ja sehr anonym ist, ermöglichte es mir, zu erzählen, worauf ich Lust hatte.

In welcher Beziehung stehen der Alte und der stumme Verletzte in Le poids de la neige zueinander?

Christian: Es geht um die Beziehung zwischen zwei Männern, in der Stärke und Komplexität generationenübergreifend sind. Es gibt den Alten und den Jungen. Der Junge ist in den 30igern, vielleicht auch 40igern und der Alte ist in den 80igern, vielleicht auch 70igern. Der eine ist also doppelt so alt wie der andere. Beide sind dazu gezwungen, den Winter gemeinsam zu verbringen. Der Protagonist hat zwei gebrochene Beine und Matthias soll sich um ihn kümmern, ihn pflegen. Sie sind ja in einem abgelegenen Dorf, das von Wald umgeben ist. Ohne Strom und mit einem besonders harten Winter sind sie in einer kleinen Hütte gefangen. Sie sind dazu verdammt, den Winter gemeinsam zu überstehen, sich gegenseitig zu helfen und gezwungenermaßen eine Gemeinschaft zu bilden. Dabei ist die Beziehung zwischen dem Jungen und dem Alten anfangs umgekehrt zum Normalzustand. Normalerweise hilft der Jüngere dem Alten, der sich seinem Ende nähert. Das sieht man häufig und wird als Normalzustand beschrieben. Im Roman ist es aber der Alte, der körperlich fit ist und der einem jungen Mann hilft, der körperlich und moralisch gebrochen ist. Der Normalzustand ist umgekehrt. Anschließend begleitet man, wie sich ihre Beziehung verändert, wie die Machtverhältnisse nach und nach wieder korrigiert werden, indem es dem Protagonisten immer besser geht. Ist er anfangs stumm, beginnt er später wieder zu sprechen. Er beginnt sich zu bewegen, geht ein paar Schritte und er bezieht Stellung, widersetzt sich seinem Kompagnon, der sich trotz allem weiter um ihn kümmert.

In beiden Romanen ist die Atmosphäre wichtig. Alles geschieht langsam. Wie bist du beim Erschaffen dieser Langsamkeit vorgegangen?

Christian: Ich schreibe gern Geschichten, in denen letztlich nicht viel passiert. Denn genau indem nichts passiert, kann jederzeit alles passieren. Das ist vielleicht eine fixe Idee, aber ich möchte meine Literatur nicht in der dramatischen, intensiven, ungewöhnlichen Aufeinanderfolge dramatischer Ereignisse einschreiben. Ganz im Gegenteil. Ich möchte die kleinen alltäglichen Dinge in einem bestimmten Setting aneinanderreihen, denn die Fiktion ermöglicht auch, dass jedes kleine Element – die Art und Weise, wie man die Kaffeetasse auf den Tisch stellt oder wie man den Kopf vor jemandem hebt oder dreht – eine bestimmte Realität preisgibt und es die Spannung nährt, also das Wenige, was im Roman passiert. Es sind hauptsächlich Geschichten über Beziehungen und die innere Suche, weshalb sie ohne wichtige Ereignisse und mit kleinen banalen Dingen des Alltags auskommen.
Die Atmosphäre ist mir wichtig. Im ersten Roman lässt der Protagonist seinen Blick durch das Dekor schweifen, durch das er mit dem Auto fährt. Er sorgt dafür, dass die Beschreibung der sich vorbeiziehenden Landschaften seine Verfassung spiegeln und so bereichern bestimmte Details die Geschichte, sodass die Stimmung zu seinem Zustand passt. Man bekommt den Eindruck, es geschehe mehr. Das ist auch bei Le poids de la neige so: Der zunehmende Schnee erhöht die Spannung, so als wäre man in einem Behälter, indem das Wasser steigt und steigt und man nicht mehr weiß, woher man Luft bekommen soll. Die Wahrnehmung der Umgebung und die Aufmerksamkeit für die Details, von ganz Konkretem, können aufschlussreich sein.
Wenn ich sage, nichts passiert, stimmt das nicht ganz. Es passiert natürlich was, auch wenn es nur winzige Dinge sind. So ist für mich das Leben. Es spielt sich in kleinen Details ab. Selbst die größten Emotionen, die größten Momente, die größten Entzückungen ereignen sich in banalen Kontexten. Ich rücke das Banale in den Fokus und mit der Poesie der Sprache hebe ich es hervor. Deshalb schreibe ich solche Geschichten, und aktuell kann ich etwas nur so erzählen.

Du hast einen namenlosen Erzähler in der ersten Person Singular gewählt. Ich fand ihn manchmal ziemlich unzuverlässig. Hast du das so beabsichtigt?

Christian: Bei einem Erzähler in der ersten Person ist eine Identifikation für gewöhnlich möglich, allein schon durch das „ich“. Dennoch gibt es, wie du es treffend gesagt hast, eine gewisse Verschiebung und ein Spiel des Misstrauens, weil der Protagonist zwar im „ich“ spricht, aber nur wenig von sich preisgibt. Die Psychologie der Figuren wird nicht anhand expliziter Gefühlsbeschreibungen und Beschreibungen des Seelenzustands vertieft. Auch wenn man dem Blick der Figur folgt, erhält man nur Beschreibungen des faktisch Realen. Dennoch ist der psychologische Aspekt der Figuren in meinen Texten enthalten, aber eben in den Details: etwa wie die Kaffeetasse auf den Tisch gestellt wird oder wie geseufzt wird. Es sind Details des Konkreten. Was geschieht, zeigt sich im körperlichen Aspekt, der etwas zum Ausdruck bringt. Der Leser ist der Figur, auch wenn der Zugang beschränkt ist, dennoch nah. Das ist in etwa – und das ist eine ganz persönliche Überlegung und ich weiß nicht, ob sie von Bedeutung ist – wie wenn man sich selbst manchmal fremd ist. Wir wissen, dass wir es sind, die sehen, die in unserer Haut sind, mitten in unserem Leben, aber wir tun Dinge, die wir nicht verstehen. Wir sind uns fremd und bleiben unserem eigenen Bewusstsein verschlossen, etwa wie bei „je est un autre“ von Rimbaud. Das sind die Mehrdeutigkeiten, mit denen in der Literatur immer wieder gespielt wird. Es sind die Themen, die sich über die Zeit durchgesetzt haben und ich bearbeite sie auf meine Art und Weise.

Le fil de kilomètres wurde ins Englische übersetzt …

Christian: Running on fumes ist der Titel. Es ist eine gängige Wendung und meint „die letzten Meter, die man mit dem restlichen Sprit fährt“. Quasi „mit leerem Tank fahren“, „running on empty“, wie man auch sagt. Mir gefällt der englische Titel sogar besser. Der Roman ist 2015 auch in Frankreich erschienen.

Einen dritten Roman hast du erwähnt. Was kannst du dazu sagen?

Christian: Es ist immer schwierig über Projekte zu sprechen, an denen man noch arbeitet. Was ich sagen kann, ist, dass der dritte Roman mich schon lange begleitet. Es gab ihn schon vor Le poids de la neige, denn Le poids de la neige ist entstanden, als ich eigentlich an meinem zweiten Roman schrieb. Nach der Entscheidung, den Stromausfall und die Hauptfigur zu übernehmen, wollte ich eine Geschichte des Wanderns, des Walds erzählen. Aber in Le fil de kilomètres hatte sich der Protagonist die Beine gebrochen. Also brauchte ich eine Einleitung für die Geschichte, in der er sich erholt. Nach 30 Seiten könnte er wieder laufen und ich hätte mit der eigentlichen Geschichte beginnen können. In der ersten Fassung wurde mir aber klar, dass das nicht funktioniert und es eigentlich zwei Geschichten sind. Also habe ich die Einleitung, in der sich der Protagonist über den Winter erholt, genommen und ausgeweitet, sodass daraus der Roman geworden ist. Die Idee für den dritten Roman gab es also schon vorher. Ich habe jede Menge Notizen dazu und schon an die 100 Seiten geschrieben. Aber Schreiben ist ein langer Prozess. Der Roman spielt im Wald. Es gibt immer noch keinen Strom. Man würde denken, dass das den Wald unberührt lässt, aber das ist falsch. Die Menschen gehen in den Wald, weil der Stromausfall Chaos und soziale Umbrüche hervorbringt. Viele Menschen flüchten in den Wald. So werden die Wälder, die wir kennen, plötzlich von vielen bewohnt, die dort Unterschlupf suchen. Der Wald wird zu einem noch nie gesehenen sozialen Umfeld, in das sich mein Protagonist vorwagt, um seine Familie wiederzufinden.

Zum Abschluss möchte ich noch wissen: Welche Titel der Québecer Literatur würdest du empfehlen?

Christian: Ich lese gerade zwei Romane. Der eine ist ziemlich bekannt und auch ins Deutsche übersetzt. Es ist Il pleuvait des oiseaux von Jocelyne Saucier. Auch das ist ein fantastischer Waldroman. Eine Gruppe von Senioren verbringt seine letzten Jahre abgeschieden im Wald in aller Freiheit. Man sieht ihre jugendliche und rebellische Seite. Ich mag die Figur des Alten, die ich auch in Le poids de la neige eingeschrieben habe. Der andere ist Synapses von Simon Brousseau, erschienen bei Le Cheval d’août. Er enthält 100 Aphorismen von einem Satz à 250 Wörtern. Es sind spontane Aufnahmen von Figuren, im Grunde kurze Veranschaulichungen erzählt in der zweiten Person Singular, die den Eindruck vermitteln, man hätte Zugang zum Bewusstsein desjenigen, der sich an die Figuren wendet. Es ist als würde man in ihre Haut schlüpfen, um in ihr Bewusstsein zu gelangen, als richteten sie sich an sich selbst in der zweiten Person Singular. Es entstehen Situationen, die mal verspielt sind, immer tiefgreifend und eine gewisse Neugier für das Leben nähren. Einige der Aphorismen überschneiden sich und sie lesen sich letztlich wie ein Roman. So was nennt man literarisches Ufo, denn die Form ist ungewohnt, aber die Prosa fantastisch, äußerst gekonnt und die Bilder komplex.