Frankfurter Buchmesse 2017: Neues vom franko- und anglokanadischen Buchmarkt

14. Dezember 2017 | Reportage

Das Motto auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse lieferte der Ehrengast Frankreich. Mit „Frankfurt auf Französisch – Francfort en français“ rückten sie den französischen Sprachraum in den Fokus. 180 Autorinnen und Autoren, die auf Französisch schreiben und veröffentlichen, kamen für den Gastlandauftritt nach Frankfurt. Sie nahmen an Veranstaltungen auf der Buchmesse, im Ehrengastpavillon und an verschiedenen Locations in der Stadt teil.
Nach der Eröffnung am 10. Oktober 2017, zu der neben der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem Präsidenten Frankreichs Emanuel Macron, dem Frankfurter Oberbürgermeister und dem Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Heinrich Riethmüller auch der Autor und Regisseur Wajdi Mouawad gekommen war, konnte wieder in den weiträumigen Hallen gestöbert werden. Beim Schlendern durch die Hallen 3 und 4 habe ich einiges an kanadischer Literatur entdeckt, das deutsche Verlage in diesem Jahr herausgebracht haben. Die Frankfurter Verlagsanstalt hat im September Six degrés de liberté von Nicolas Dickner veröffentlicht. Nach Tarmac und Nikolski ist es der dritte Roman, den der Verlag in der Übersetzung von Andreas Jandl für den Leser hierzulande auf den Markt gebracht hat.
Auf der Buchmesse habe ich Andreas Jandl getroffen und ihn zu diesem Buch befragt, dessen Titel im Deutschen Die sechs Freiheitsgrade lautet. Er erinnert sich noch gut daran, als der Québecer Verleger Antoine Tanguay den neuen Roman von Nicolas Dickner angekündigt hat. Als Übersetzer der Romane Tarmac und Nikolski war er besonders auf das Thema gespannt. Als ihn der deutsche Verleger Joachim Unseld wegen der Übersetzung des neuen Romans angesprochen hat, wurde er durch das Thema, das mit seiner Containerwelt ziemlich unromanesk ist, überrascht, erzählt er. Als Übersetzer las er zuerst die Originalversion, die in der Zwischenzeit mit dem Prix du Gouverneur général ausgezeichnet worden war. „Das war für den Autor grandios und für alle, die sich damit freuen konnten auch. Der deutsche Verleger war über diesen Preis auch ganz begeistert “, erinnert er sich. Dieser Roman, der den Leser auf eine große Containerfahrt mitnimmt, hat Andreas Jandl gepackt: „Ich fand es besonders sympathisch eine Figur aus seinem ersten Roman wiederzutreffen. In Nikolski ist die junge Piratin wegen Kreditkartenbetrugs gefasst worden und jetzt hat sie eine Bewährungschance bekommen und arbeitet für die kanadische Bundespolizei. Sie tut das aber sehr halbherzig und langweilt sich oft. Eines Tages bekommt sie mit, dass ein seltsamer Container ins Visier der Bundespolizei geraten ist, und nimmt dessen Fährte auf. Dabei kommt sie schneller voran als ihre Kollegen von der Bundespolizei, die offiziell in dem Fall ermitteln.“ Die unabhängigen Ermittlungen der beiden Instanzen ist aber nur ein Erzählstrang im Roman. Der andere Erzählstrang, den Andreas Jandl noch viel interessanter findet, handelt davon, wie es überhaupt dazu kam, dass ein auffälliger Container unterwegs ist. Die sechs Freiheitsgrade sei sehr schön geschrieben, mit einer Prise Ironie und einer unglaublichen Leichtigkeit und vermittle viel technisches, historisches und soziologisches Wissen, schwärmt der Übersetzer. Als er mit der Übersetzung des Romans loslegte, fielen ihm stilistische Merkmale aus vorherigen Büchern auf. Es waren vor allem Szenen, in denen plötzlich alles sehr schnell geht. An manchen Stellen hatte er Fragen, die er sich notiert und an den Autor geschickt hat, was sich als gute Entscheidung entpuppt hat: „Ich habe ihn kontaktiert und er hat mir sehr gut geholfen. Er hat mich in Sphären geleitet, in denen ich mich nicht auskannte, teilweise gab es auch Sachen, die er sich für sich selbst überlegt hat und das hätte ich gar nicht recherchieren können. Zum Glück war er da, sonst hätte ich irgendwo korrigierend eingegriffen, wo es wirklich nicht gegeben war.“ Nachdem seine Arbeit als Übersetzer erledigt und der Roman veröffentlicht wurde, ist es Dickners packendem Roman über Container zu wünschen, dass er viele Leser findet. Ein neues Buch von Barbara Gowdy aus Toronto hat der Verlag Antje Kunstmann auf der Buchmesse prominent präsentiert. Nach Der weiße Knochen, Die Romantiker und Hilflos und hat die Autorin mit Kleine Schwester einen neuen Roman fertiggestellt, den sie im November auch auf einer Lesereise in Deutschland vorgestellt hat. Auch an den Ständen vom NordSüd Verlag und dem Luchterhand Literaturverlag waren Bücher von Autoren aus Kanada zu entdecken: Metropolen von Benoit Tardif und Sag nicht, wir hätten gar nichts von Madeleine Thien. Den vielfach ausgezeichneten und übersetzten Roman hatte sie im September auf dem internationalen literaturfestival berlin vorgestellt.

Am Stand des Berliner Verlags Reprodukt konnte nicht nur die Sammlung von Graphic Short Stories angeschaut werden, die unter dem Titel Grenzenlos veröffentlicht ist und von der kanadischen Illustratorin und Autorin Jillian Tamaki kommt, sondern auch die Bücher von Guy Delisle. Zuletzt war von ihm die Graphic Novel Geisel erschienen, mit der er es auf die Hotlist der zehn Bücher des Jahres aus unabhängigen deutschsprachigen Verlagen geschafft hat. Guy Delisle war wie Dany Laferrière einer der 180 Autoren, die an mehreren Veranstaltungen und Gesprächsrunden auf der Grande Bühne im Pavillon des Ehrengastes oder auf anderen Bühnen teilgenommen haben. Von Dany Laferrière war zuletzt der Debütroman Die Kunst, einen Schwarzen zu lieben ohne zu ermüden in der Übersetzung von Beate Thill beim Verlag Das Wunderhorn erschienen. Der Autor hatte ihn vor mehr als 30 Jahren in Québec veröffentlicht, in Deutschland folgte er auf die Publikationen seiner Bücher Das Rätsel der Rückkehr und Tagebuch eines Schriftstellers im Pyjama. Am Verlagsstand von Piper waren die Bücher der kanadischen Autorin Margaret Atwood aufgereiht, darunter Die Geschichte von Zeb, Das Herz kommt zuletzt, Aus Neugier und Leidenschaft und Der Report der Magd, ihr erster Roman, der zuletzt durch die preisgekrönte Serie in den USA erneut Aufmerksamkeit bekommen hat. Am Ende der Buchmesse wurde die 78-jährige Autorin aus Toronto mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Unter den 7.300 Ausstellern in diesem Jahr waren auch Verlage aus Kanada. Am Gemeinschaftsstand von Québec Édition in Halle 5.1 durchblätterte ich die Neuheiten und hatte die Gelegenheit, mich mit dem einen oder anderen Verleger über die neuesten Bücher zu unterhalten. Neu bei Le Quartanier waren die Romane Le jeu de la musique von Stéfanie Clermont, La dévoration des fées von Catherine Lalonde und Simone au travail von David Turgeon. Neben den Neuheiten L’habitude des bêtes von Lise Tremblay und Johnny von Catherine Eve Groleau waren in den Regalen von Boréal auch die Bücher von Gaétan Soucy aufgereiht. Der Verlag Matthes & Seitz hat 2008 und 2010 zwei seiner Bücher in der deutschen Übersetzung von Andreas Jandl veröffentlicht. In diesem Herbst kam die Verfilmung von Soucys erstem Roman La petite fille qui aimait trop les allumettes ins Kino. Antoine Tanguay von Alto hat vor zwölf Jahren Nikolski von Nikolas Dickner veröffentlicht. In Frankfurt hatte er dieses Mal den Roman Ici, ailleurs von Mathieu Simard und De synthèse von Karoline Georges dabei.
Nach 752 lapins ist beim Verlag Les 400 coups das neueste Ergebnis der Zusammenarbeit von François Blais und Valérie Boivin erschienen: Le livre où la poule meurt à la fin. In den Regalen der Verlage Libre Expression, Stanké und Trécarré, bei denen die Romane von Kim Thúy (in Deutschland von Antje Kunstmann verlegt), Suzanne Aubry und David Goudreault erscheinen, fiel das neue Buch von Kim Thúy ins Auge. In Le secret des vietnamiennes hat die Autorin Familienrezepte und Anekdoten kombiniert. Ebenfalls ins Auge fiel das Buch Amun. Wie der Titel es ankündigt, sind in dem Buch Texte verschiedener Autorinnen und Autoren wie Maya Cousineau-Mollen, Joséphine Bacon, Natasha Kanapé Fontaine und Naomi Fontaine versammelt. Einige dieser Autorinnen veröffentlichen bei Mémoire d‘encrier, z.B. Naomi Fontaine, von der zuletzt Manikanetish erschienen ist. Ihr Debütroman Kuessipan ist bereits ins Englische übersetzt worden und gerade dabei, von der Regisseurin Myriam Verreault verfilmt zu werden. In Halle 6.0 befand sich der Gemeinschaftsstand von Livres Canada Books. Bei Leméac waren neben dem Buch Anima von Wajdi Mouawad, der mit seiner Performance Teil der Eröffnungszeremonie war, auch die neuen Romane von Biz und Audrée Wilhelmy aufgereiht. Den Autor von La chaleur des mammifères hatte ich im letzten Jahr in Bremen getroffen. Audrée Wilhelmy, von der nach Oss und Les sangs der dritte Roman bei Leméac herausgekommen ist, konnte ich in Frankfurt treffen, denn die Autorin, die das Cover der letzten Ausgabe von Lettres québécoises ziert, begleitete ihren Verlag. Ich nutzte die Gelegenheit, um mehr über Le corps des bêtes zu erfahren. „In meinem neuen Roman geht es um die Mitglieder ein- und derselben Familie“, resümiert Audrée Wilhelmy und setzt fort: „Sie leben zurückgezogen in einem Leuchtturm, wofür sie von der nächsten, weit entfernten Stadt bezahlt werden. Drei von ihnen stehen im Vordergrund. Als erstes ist da Osip. Er ist der Wächter des Leuchtturms, hat die Aufgabe von seinem Vater übernommen. Ihn faszinieren die vorbeifahrenden Schiffe, er notiert, woher sie kommen und was sie geladen haben. Er ist eher ein Beobachter als ein Mann der Tat. Und als er die Gelegenheit hat, wegzugehen, kann er es nicht. Er steht in Konkurrenz zu seinem Bruder Sévastien. Beide buhlen um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter und später um die von Noé. Sévastien ist für das Beschaffen von Nahrung zuständig und garantiert das Überleben der Familienmitglieder. Das rechnet ihm die Mutter hoch an. Osips Aufgaben erlangen nicht die gleiche Art der Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Eines Tages kehrt Sévastien von der Jagd in Begleitung von Noé zurück. Sie spricht sehr wenig. Wenn sie das Wort ergreift, ist es oft, um eine Geschichte zu erzählen oder ein Lied zu singen. Sie ist ein Freigeist. Für Osip verkörpert sie das Anderswo, denn sie kommt und geht wie die Schiffe.“
Sévastien nimmt sich Noé zur Frau. Aber auch Osip fängt an, sie zu begehren und die beiden nähern sich an. „Sie bekommen vier Kinder und bis auf Mie weiß man nicht, welches Kind von welchem Vater ist,“ erklärt die Autorin. Mie ist die dritte Hauptfigur im Roman. Weil sie an Asthma leidet, ist sie eingeschränkt und kann dem Bewegungsdrang ihrer Brüder nicht folgen. Wilhelmy führt fort: „Ihr Umfeld besteht aus einer Mutter, die nicht spricht, einem Onkel, der Leuchtturmwächter ist, einem Vater, der im Wald lebt und einer Oma, die sich um die Kinder kümmert. Es gibt nicht gerade viel zu tun. Um sich zu bewegen und Zeit hinter sich zu bringen, schlüpft sie in den Körper von Tieren, z.B. in den eines Vogels. Sie sieht, erlebt und nimmt wahr wie es ein Vogel tut. Als sie 12 Jahre alt ist, befindet sie sich im Körper eines Kranichs, eines Otters oder Leguans, während sie sich paaren. Über diese Erlebnisse wird ihre eigene Sexualität und das Verlangen erweckt. Und das erzählt der Roman.“ Wie kam sie darauf, Mie die Fähigkeit zu verliehen, in den Geist von Tieren zu schlüpfen? Wilhelmy sagt dazu: „Das war anfangs noch nicht geplant. Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, die Beziehung zu ihrem Onkel als etwas Natürliches im Kopf von Mie darzustellen und nicht als etwas, das problematisch ist. Darum geht es auch nicht. Und es bleibt auch nur als Möglichkeit im Roman stehen und wird nicht konkret. Weil sie nicht vom Leuchtturm weg kann, schien es mir für jemanden, der in seiner Fortbewegung beschränkt ist, die beste Möglichkeit zu entfliehen.“
Wilhelmys Romane können unabhängig voneinander gelesen werden, aber ihr sei klar geworden, dass sie sie im selben Universum angesiedelt hat und dass sie, als sie an einer Figur für Le corps des bêtes arbeitete, erkannt hat, dass sie dermaßen Noé aus Oss ähnelte, dass sie sie für den Roman verwendet hat. Ihre Romane haben etwas Märchenhaftes und sind lokal wie zeitlich wenig konkret eingebettet. Und es geht ihr auch nicht darum, ihre Geschichte in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort einzuschreiben, erklärt Audrée Wilhelmy: „Ich mag es, Tabus und heikle Fragen zu erörtern und die Form des Märchens lässt mir dafür viele Freiheiten.“ Weitere Bücher von kanadischen Verlagen in Halle 6.0 waren z.B. der Roman Routes sécondaires von Andrée A. Michaud (Québec Amérique), das Sachbuch La santé globale à votre portée von Justin Marcotte (de l‘Homme) und einige Kinderbücher, die die Verlage Michel Quintin und Les Malins mitgebracht hatten. Nach fünf Tagen auf der Buchmesse war ich wieder einmal mit vielen Eindrücken und Büchern abgereist. Das gute Wetter und das umfangreiche Programm haben viele Besucher angelockt, die eifrig kontrolliert wurden, bevor sie in den Messealltag starten durften und durch die Luft in den Hallen schritten, die für trockene Nasen und Augen sorgte. Wie jedes Jahr gab es Besucher, die es trotz der Hinweisschilder auf den Rollteppichen nicht hinbekamen, rechts zu stehen, weil links zum Gehen war. Und es gab auch wieder einige Leute, für die das Ende des Laufbands zu schnell kam und die schmerzlich stürzten. Nun sind es nur noch drei Jahre, bis die Literatur aus Kanada ihren Ehrengastauftritt hat. Was das Land literarisch zu bieten hat, wurde in der Zeitschrift Publishing Perspectives zusammengefasst, die gratis verteilt wurde und online zum Download zur Verfügung steht. Um den Auftritt in drei Jahren vorzubereiten, lagen an den beiden Ständen in Halle 5.1 und 6.0 Broschüren aus, in denen Verlage und Autoren aus Kanada vorgestellt werden: der Katalog der Verlage aus Québec und dem frankofonen Kanada, herausgegeben von Québec Édition, sowie der Rechtekatalog, herausgegeben von Livres Canada Books und zuletzt das Buch Reading Canada, Lire le Canada, Lektüre Kanada, das anhand einer kleinen Auswahl die Vielfältigkeit der kanadischen Literaturszene vorstellt.