Um einen Espressoshake mit Schokolade, Banane und Ahornsirup zu bestellen, überquerte ich vergangenen Sommer einmal die Insel, auf der Montréal liegt. Ich war dort mit Claudine Dumont im Café Ma sœur et moi verabredet, das sie gemeinsam mit ihrer älteren Schwester eröffnet hatte.
2012 hat sie ihren ersten Roman Anabiose (XYZ) veröffentlicht; er liegt seit 2014 auch in englischer Übersetzung bei House of Anansi vor. Im Herbst 2015 folgte La petite fille qui aimait Stephen King. Auch er liegt bereits in Übersetzung vor: beim italienischen Verlag La Corte Editore. Ich wollte mehr über die Romane erfahren, die mir so gut in Erinnerung geblieben sind, und über die Autorin, die sie verfasst hat. Während sie hinter der Theke ihrer Arbeit als Caféinhaberin nachging, stellte ich ihr meine Fragen.
Du hast Psychoanalyse, Literatur und Drehbuch studiert. Wie hat dich das auf deinem Weg zur Autorin beeinflusst?
Claudine: Das hört sich nach viel an, ich habe die Fächer allerdings mit Blick auf den literarischen Schwerpunkt gewählt. Meine Abschlüsse vom Bachelor bis zum Doktor sind alle in Literatur. Allerdings konnte man innerhalb der Programme wählen, wo man seinen Schwerpunkt setzt, um so seine Kenntnisse zu vertiefen. Ich habe mich für die Psychoanalyse entschieden, weil sie mich interessierte und mir beim Schreiben nutzte. Ich würde sogar sagen, dass sie grundlegend für mein Verständnis des Menschen war und mir dabei half, glaubwürdige Personen in der Fiktion zu entwerfen.
Dein erster Roman Anabiose wurde bei XYZ veröffentlicht. Darin erzählst du von einer jungen Frau, die ein einsames, zurückgezogenes Leben führt bis zu dem Tag, an dem sie entführt wird. Was folgt, ist schwer zusammenzufassen, ohne zu viel vorwegzunehmen. Wie würdest du ihn beschreiben?
Claudine: Ich weiß, was du meinst. Wenn mich die Leute fragen, worum es in meinem Roman geht, sage ich: „Es geht um eine junge Frau, die eines Morgens in einem Zimmer mit Betonwänden aufwacht. Sonst gibt es nichts in dem Raum und sie weiß nicht, warum sie dort ist.“ Mehr sage ich nicht, denn was folgt, sind Überraschungen und Wendungen in der Geschichte. Es ist also nicht leicht, über die geschlossene Gesellschaft zu sprechen, in der sich die Hauptfigur befindet. Sie erzählt aus ihrer Sicht als Eingesperrte.
Es dreht sich vieles um die Sinne.
Claudine: Genau. Die Idee war, ihr alles zu nehmen. Im Buch ist folgendes Zitat abgedruckt: „You don’t know what you’ve got till it’s gone.“ Ich glaube, dass das stimmt. Wir wissen nicht, was wir haben, bis es uns genommen wird und darauf ist mein Roman aufgebaut.
Den Roman hat David Scott Hamilton ins Englische übersetzt und House of Anansi hat ihn veröffentlicht. Ich habe den Eindruck, dass immer mehr Romane übersetzt werden und somit dem Leser in beiden offiziellen Sprachen Kanadas zugänglich werden. Wurdest du in den Übersetzungsprozess involviert?
Claudine: Bevor er mit der Übersetzung angefangen hat, haben wir uns getroffen. Er wollte mich kennenlernen und herausfinden, mit wem er es zu tun hat. Weil ich beide Sprachen spreche, konnte ich mit ihm zusammenarbeiten. Er hat in kürzester Zeit den Roman übersetzt und mir die Übersetzung mit dem Hinweis geschickt, alles zu kommentieren, was mir auffällt. Seine Arbeit war einwandfrei. Hätte ich es übersetzen müssen, hätte ich es genau so getan. Natürlich ist seine Übersetzung besser als es meine gewesen wäre, denn Englisch ist seine Muttersprache. Mir wären bestimmte Dinge entgangen.
Hast du denn schon erste Rückmeldungen oder Kommentare der englischen Leserschaft?
Claudine: Im März 2016 bin ich zum Cuffed Festival nach Vancouver eingeladen worden. Es ist ein Festival für Kriminalliteratur und hat zum ersten Mal stattgefunden. Ich war anfangs unsicher, ob mein Roman da wirklich hin passt, aber ein psychologischer Thriller ist manchmal schwer unterzubringen und den Festivalleiter hatte er überzeugt. Ich traf dort Leute, die mein Buch gelesen haben oder es noch vorhatten und auch englischsprachige Autoren, die ich sonst nicht getroffen hätte. Québec ist zwar in Kanada, aber es ist beinah so, als ob zwischen Québec und der Nachbarprovinz Ontario eine Grenze verläuft. Was auf der jeweils anderen Seite passiert, weiß man einfach nicht. Nach Vancouver zu fahren dauert seine Zeit. Man sagt sich nicht einfach, dass man da mal schnell hinfährt. Ich hatte den Eindruck, dass sie dort Literatur und Kultur anders wahrnehmen und dass der Literaturbetrieb dort anders funktioniert. Es war eine interessante Reise, bei der ich viel gelernt habe. Die Autoren können dort von ihrem Schreiben leben. Bei uns in Québec ist das anders. Hier zu schreiben ermöglicht einem nicht unbedingt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Man macht es, weil man es mag und weil man hofft, dass sich die Bücher auch exportieren, aber um davon zu leben …
In deinem zweiten Roman mit dem Titel La petite fille qui aimait Stephen King geht es um …
Claudine: … eine große Schwester, die von ihrer kleinen Schwester erzählt. Ich habe eine ältere und eine jüngere Schwester. Deshalb konnte ich mich in beide Positionen hineinversetzen und in das Verhältnis, das eine große Schwester zu ihrer kleinen Schwester hat. Ich bin auch Mutter. Wenn man das Verhältnis zwischen den Schwestern betrachtet, fällt einem auf, dass sie sich sehr nahestehen. Sie haben ein geschwisterliches Verhältnis, aber es geht auch noch viel weiter. Weil die Mutter nicht in der Lage ist, sich um ihre Jüngste zu kümmern, übernimmt das ihre Ältere.
In beiden Romanen nimmst du zwischenmenschliche Beziehungen genauer in den Blick. Die Schwestern verbringen ihre Sommerferien bei einer Tante in den USA und dort passiert etwas, das alles verändert.
Claudine: Als ich erfahren habe, dass mein erster Roman Anabiose veröffentlicht wird, habe ich mit dem zweiten Buch angefangen. Es dauert seine Zeit, bis ein Buch in Québec erscheint. Während dieser Zeit habe ich also geschrieben. Ich habe mich gefragt, worüber ich schreiben könnte und worauf ich Lust hätte. Die Idee zu Anabiose hatte ich, als ich A million little pieces von James Frey gelesen habe. Am Anfang der Geschichte befindet sich der Protagonist vor der Betty Ford Clinic für Rehabilitation. Da kam mir der Gedanke an eine Einrichtung für Menschen, die zwar nicht von einer Substanz abhängig sind, die aber nicht wissen, wie man das Leben genießt. Das wäre doch toll. Beim zweiten Buch hatte ich keinen solchen Auslöser. Ich hatte die Idee für das Ende der Geschichte aus einer faszinierenden Episode von Criminal Minds. Und ich wollte einem meiner Lieblingsautoren zu Ehren einen Horrorroman schreiben. Das ist auch das Genre, das ich am liebsten lese, weil es entspannend ist. Warum das bei mir so ist, weiß ich nicht, aber ich lese es wirklich gerne. Ich wollte also einen Horrorroman schreiben. Herausgekommen ist allerdings kein Horrorroman, denn es ist wohl so, dass man nicht immer das schreibt, was man will, sondern das, was man kann. Es wurde ein psychologischer Thriller, in dem Themen aus dem Bereich des Horror vorkommen.
Die Geschichte beginnt mit einem Ereignis, in dessen Zentrum die große Schwester Julie steht. Sie und ihre kleine Schwester fahren nach Maine. Ich hatte auch eine Tante, die in Maine gewohnt hat und als wir noch klein waren, haben wir sie in den Ferien besucht. Die Erinnerungen und Gerüche sind mir noch immer präsent und deshalb konnte ich mich daran bedienen. Stephen King lebt in Maine, in Bangor. Meine Tante wohnte nur drei Stunden weit weg.
Ich wollte herausfinden, warum wir in Sachen Liebe heutzutage so schnell aufgeben. Man ist in einer Beziehung und sobald es schwierig wird, gibt man auf und geht zu etwas bzw. jemand anderem über. Was ist diese Liebe wert, die beim ersten Problem auseinanderbricht? Ich wollte sehen, bis zu welchem Punkt man trotz allem weiterversuchen kann, nicht aufzugeben. Auch wenn der andere sich verändert. Denn bedeutet es, dass man den, mit dem man lebt, nicht mehr liebt, wenn er sich verändert? Wenn ich ein Liebespaar gewählt hätte, hätte das nicht in der gleichen Art funktioniert. Hätte der Mann oder die Frau das gemacht, was Julie im Buch für ihre kleine Schwester unternimmt, wäre es unglaubwürdig gewesen. Wir sind heutzutage eine solche Art der Liebe nicht mehr gewöhnt. Deshalb habe ich mich für die Schwestern entschieden. Julie möchte ihre Schwester verstehen, ihr folgen und sagen, dass wenn sie sich ändert, sie sich vielleicht anpassen kann. Genau darum geht es in dem Roman.
Ausgangspunkt war also Stephen King. Hast du ein Lieblingsbuch von ihm?
Claudine: Bis auf die Reihe La tour sombre und Le dôme habe ich alles von ihm gelesen und auch gemocht. Die anderen Bücher zählen zu meinen Favoriten, einige davon habe ich zweimal gelesen. Ich mag besonders Insomnia. Es ist lange her, dass ich es gelesen habe, aber es war das erste Buch, in dem die Hauptfigur alt war. Das ist in der Literatur durchaus selten. Als King den Roman geschrieben hat, war er noch nicht alt. Seine Figur war 20, 30 Jahre älter als er und er hat ihn glaubwürdig dargestellt. Ich fand auch den Roman gut, den er nach seinem Unfall geschrieben hat: Dreamcatcher. Und Lisey’s Story. Darin besucht die Frau eines erfolgreichen, verstorbenen Autors den mythischen Ort, an dem er Inspiration gefunden hat. Ich fand in dem Roman toll, dass seine Auseinandersetzung mit sich selbst und die Hingabe zu seiner Frau spürbar waren. In den anderen Büchern ist es schwer auszumachen, was aus seinem eigenen Leben in seine Bücher eingeflossen ist.
Liest du seine Bücher auf Englisch oder in der französischen Übersetzung?
Claudine: Als ich ein Teenager war, habe ich sie auf Französisch gelesen. Jetzt lese ich sie auf Englisch. Die Unterschiede sind sehr groß. In der französischen Übersetzung von Kings Romanen ist sein literarisches Niveau gehoben. Stephen King schreibt, wie man spricht. Es ist sehr umgangssprachlich, was ihn so schnell und produktiv macht. Ich war an den französischen Stil gewohnt. Als ich die Bücher dann auf Englisch gelesen habe, hat mich diese Alltagssprache verwirrt. Damals hatte ich auch gerade Duras und Dostojewski an der Uni gelesen. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt und meine Freude daran entdeckt, Bücher in ihrer originalen Sprache zu lesen. Ich bewundere sehr, wie King seine Charaktere konstruiert. Es gelingt ihm, Figuren zu entwerfen, die es nicht gibt, die dem Leser aber fehlen, weil sie glauben, sie zu kennen. Ich frage mich, wie er das macht. Er hat großes Talent und bereitet mir dadurch eine große Lesefreude.
Der Titel deines zweiten Romans ehrt zum einen Stephen King und zum anderen Gaétan Soucy, der den Erfolgsroman La petite fille qui aimait trop les allumettes geschrieben hat.
Claudine: Von den Autoren aus Québec ist Gaétan Soucy mein Favorit. Wenn man mich fragen würde, welchen Autor ich gerne treffen möchte, dann wäre das zum einen Stephen King und zum anderen hätte ich mich sehr über ein Treffen mit Gaétan Soucy gefreut. Das hat leider nicht geklappt. Ich habe den ganzen Tag geweint, als ich von seinem Tod erfahren habe. Ich war so traurig, dass es keine weiteren Bücher mehr von ihm geben würde.
Als mein Verlag erkannt hatte, dass sich der Titel von meinem ersten Buch versperrt und bei den Lesern Reaktionen hervorruft wie „ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll, es wirkt kompliziert und ich kaufe es lieber nicht“, wollten sie für den zweiten Roman einen ansprechenderen Titel. Ich wurde gefragt, ob ich nicht auf Stephen King verweisen möchte, denn ich mag den Autor und auch die kleine Schwester im Buch mag ihn. Ich habe dann nach einem Wortspiel in einem seiner Titel gesucht und schließlich La petite fille qui aimait Tom Gordon gefunden. Und es gibt La petite fille qui aimait trop les allumettes von Gaétan Soucy. Da kam ich auf La petite fille qui aimait trop Stephen King. Bis auf das „trop“ haben sie den Titel übernommen.
Was gefällt dir bei Gaétan Soucy?
Claudine: La petite fille qui aimait trop les allumettes traf mich direkt im Bauch. Es war verstörend, aber ich habe es sehr gemocht. Ich fand auch Music-Hall! gut. Er hat nicht viel veröffentlicht, aber ich denke es ist die Gesamtheit seines Werks, die mir zusagt.
Deine Doktorarbeit hast du über einen anderen Québecer Autor geschrieben, dessen Werk viel umfangreicher ist: Jacques Ferron. Was hat dich bei ihm interessiert?
Claudine: Als ich mit der Dissertation angefangen habe, musste ich ein Thema finden, zu dem ein Autor passt, der in meiner Muttersprache veröffentlicht hat. Ich fühlte mich von meiner eigenen Kultur aber wenig angesprochen. Mein Vater ist in den USA aufgewachsen und kam mit 22 Jahren zurück nach Québec. Meine Mutter kommt aus Akadien. Zu Hause lief der Fernseher auf Englisch, ich hörte englische Musik und später las ich Bücher in ihren Originalversionen. Ich weiß nicht, warum die Québecer Kultur mich weniger anspricht, als sie sollte, aber es ist so.
Nach der Abschlussarbeit meines Masters, in der ich mich für die Brüder Grimm als Übermittler von Geschichten interessiert habe, sollte im Doktorat ein Autor aus Québec im Fokus stehen. Damals kannte ich Gaétan Soucy noch nicht und ich habe mich für Jacques Ferron entschieden. Seine Erzählung L’amélanchier hatte mich unter der ganzen Pflichtlektüre von damals am meisten interessiert und ich wollte sehen, was er sonst noch geschrieben hat. Ich bin in die Welt des Doktor Ferron eingetaucht und habe das Verlangen und die Angst in seinen Geschichten untersucht. Am Ende habe ich dann all meine Bücher bis auf Cotnoir verkauft. Dazu habe ich am meisten gearbeitet und viele Notizen im Buch gemacht. Es war quasi unverkäuflich.
Und welche Bücher von weiteren Autoren würdest du noch gern empfehlen?
Claudine: Ein Buch, das ich gelesen und gemocht habe ist Jeanne chez les autres von Marie Larocque. Die Lektüre ihres Buches war mir eine Freude. In der Québecer Literatur ist es manchmal schwierig, Autoren zu finden, die Spaß machen. Oft werden Autoren favorisiert, die sich über ihr Leiden auf dem Papier auslassen. Ihr Stil ist kompliziert und das literarische Milieu hebt seinen Hut davor. Wenn ich heute lese, möchte ich mich entspannen. Ich möchte, dass ich woanders hingeführt werde und mich während der Lektüre nicht anstrengen muss. Vielleicht bin ich da ein wenig faul, aber ich möchte eben unterhalten werden. Der letzte Roman, der mir wirklich gefallen hat, war The Martian von Andy Weir. Diese Art von Buch bereitet mir gute Laune. Ich mochte die Figur, wollte seine Freundin sein. Und sein Stil ist so scharfsinnig, dass ich eine Menge gelernt habe, ohne es zu merken.