Interview mit Sonja Finck

7. Oktober 2014 | nachgefragt

Sonja Finck übersetzt Québecer Literatur in deutsche Sprache. In diesem Jahr erschien der Roman Anima von Wajdi Mouawad (dtv, 2014) in ihrer Übersetzung. Anima ist ein Roman, ein Thriller, ein Krimi, dessen Erzähler nicht ein personaler oder allwissender ist, sondern dessen Erzähler zahlreiche Tiere sind, die jeweils durch eine andere Erzählperspektive und Art der Wahrnehmung charakterisiert sind. Es sind Tiere, die Teil des alltäglichen Lebens der Menschen sind wie Haustiere und solche, die außerhalb unserer aufmerksamen Wahrnehmung ihr Leben im Himmel und auf dem Boden am Rande beinah ungesehen leben. Sie nehmen den Protagonisten Whasch Dibsch wahr und beschreiben ihre Eindrücke von ihm, die sich manchmal über nur wenige Zeilen, manchmal über mehrere Seiten erstrecken. Durch diese künstlerische Form der Erzählung kreiert der Autor Distanz zum Geschehenen, das durch seine Grausamkeit und Bestialität lange nach der Lektüre nachwirkt.
Die Geschichte beginnt damit, dass Whasch Dibsch beim Nachhausekommen seine Frau reglos am Boden liegend mit einer grausamen Wunde am Bauch findet. Geschildert wird dieses Szenario von der Hauskatze. Mit einigen Indizien zum Täter reist Whasch Dibsch durch das Land und wird dabei angetrieben von dem Drang, dem Mörder seiner Frau gegenüberzustehen. Dabei begleitet ihn eine Erkenntnis: Die Menschen agieren von Zeit zu Zeit brutal, beinah bestialisch.
Die Suche des Protagonisten nach dem Mörder seiner Frau führt ihn an zahlreiche Schauplätze, die durch unterschiedliche Sprachen und Traditionen charakterisiert sind. So gibt es z.B. Passagen in Englisch und Arabisch. quélesen hat mit Sonja Finck über den Roman und den Übersetzungsprozess gesprochen.

Das Buch ist nicht ganz einfach zu lesen. Man findet zwar schnell in die außergewöhnlichen Perspektiven der außenstehenden Beobachter in Form von Tieren rein, aber es lebt von einer ausdrucksstarken Poesie und starken Bildern, die noch lange da sind, nachdem man das Buch zugeschlagen hat. Wie würdest du Mouawads écriture beschreiben?

Sonja: Mouawad erschafft sowohl in seinen Theaterstücken als auch in seinem Roman Anima sehr eigene, bildstarke Welten, die zugleich aber immer auch einen unmittelbaren Bezug zur Realität haben. Ihm dient die Sprache gerade nicht dazu, der Welt zu entfliehen, sondern er gebraucht sie, um inmitten all der Grausamkeit und Gewalt, die Menschen einander antun, Momente der Zärtlichkeit und Schönheit aufzuzeigen. Insofern ist sein poetischer Stil kein Selbstzweck und keine selbstverspielte Spielerei; vielmehr begreift er literarisches Schreiben im weitesten Sinne als etwas, was uns vor einer brutalen Wirklichkeit rettet.

Die Geschichte ist um einen für das Genre des Krimis typischen Mord aufgebaut. Von da an ist sie aber sehr vielschichtiger und reicht in vergangene Mythen und Bürgerkriege hinein. Was bedeutete das für den Übersetzungsprozess?

Sonja: Erstens bedeutet es, dass man viel und gründlich recherchieren muss. Man muss sich in historische und politische Zusammenhänge und fremde Lebenswelten einlesen, damit man nicht unwissentlich Fehler einbaut oder ungeschickte Formulierungen wählt, die die Leserinnen auf eine falsche Fährte führen. Mouawad erzählt ja in Anima unter anderem von den Verbrechen der weißen Siedler an den nordamerikanischen Ureinwohnern, und da muss man aufpassen, dass man nicht kolonial gefärbte Vokabeln, die an Karl May erinnern (Stichwort: Stamm, Häuptling, Indianer) verwendet, gleichzeitig aber auch nicht in eine akademische Fachsprache abgleitet und nur noch von First Nations oder Natives spricht. Denn so reden die Leute am Tresen einer Bar nicht unbedingt. Das ist eine Gratwanderung und kann nur für jeden Einzelfall entschieden werden, da gibt es keine allgemeingültige Geheimformel.
Zweitens braucht man natürlich ein feines Gespür für die verschiedenen Stilebenen des Textes. Mouawad bewegt sich in seinem Roman mit großer Leichtigkeit durch verschiedene soziale Milieus und sprachliche Register. Diese Wechsel muss man im Deutschen natürlich ebenso gekonnt vollziehen. Das ist schon eine ziemliche Herausforderung gewesen, hat aber vor allem auch viel Spaß gemacht. Als literarische Übersetzerin muss man sich ja ständig ganz unterschiedlichen Schreibweisen von verschiedenen Autoren anpassen, und bei Mouawad treffen sie eben in einem Buch aufeinander.

Erinnerst du dich an deine erste Lektüre von Anima? Wie war sie?

Sonja: Ja, natürlich erinnere ich mich daran. Das Buch hat mich absolut umgehauen und zugleich in einen Zustand höchster Erregung versetzt, weil ich sofort wusste, dass ich es unbedingt übersetzen will.
Anima ist eines der beeindruckendsten Bücher, die ich je gelesen habe, und ich habe es in anderthalb Tagen (und einer halben Nacht) durchgelesen. Da war ich gerade auf der Frankfurter Buchmesse, und ich habe noch gleich am selben Abend dem Lektor von DTV geschrieben, Günther Opitz, weil ich von dem kanadischen Verlag wusste, dass er sich für das Buch interessiert. Ich kannte Herrn Opitz vorher nicht, deshalb war mir klar, dass ich ihn irgendwie davon überzeugen muss, dass ich die richtige Übersetzerin für dieses Buch bin. Und das ist mir ja offensichtlich gelungen. Zum Glück! Es ist ein unglaublich tolles Gefühl, ein Buch zu übersetzen, für das man eine so große Leidenschaft empfindet.

Wie hast du dich an den Text angenähert, um ihn anschließend ins Deutsche zu übertragen?

Sonja: Vor allem habe ich den Text natürlich erst einmal gründlich gelesen, den französischen Text insgesamt bestimmt vier Mal, und meine deutsche Übertragung dann noch einmal mindestens sechs Mal. Meine Herangehensweise besteht darin, dass ich nach der ersten Lektüre alle Besonderheiten des Textes farblich markiere und Bezüge zwischen verschiedenen Textstellen herstelle (Wiederholungen, Wiederaufnahmen, Widersprüchen, inhaltlichen oder sprachlichen Verweisen), indem ich die entsprechenden Textstellen mit Bleistift umkringele und die Kringel dann mit Strichen verbinde. Außerdem schreibe ich mir unbekannte Vokabeln und Übersetzungsideen an den Rand. Dadurch sehen die Bücher, die ich übersetze, immer sehr bunt und vollgekritzelt aus. Auf diese Weise eigne ich mir den Originaltext an und kann dann in einem nächsten Schritt eine Sprache im Deutschen für ihn finden.

Und inwiefern war es wichtig bzw. hilfreich, die Québecer Kultur zu kennen?

Sonja: Natürlich war es für diesen Roman nicht nur wichtig und hilfreich, sondern eigentlich unerlässlich, die Québecer Kultur(en) zu kennen.
Das fängt schon bei der Zweisprachigkeit an. In den Dialogen vermischt Mouawad auf ganz selbstverständliche Weise das Englische und das Französische, wie es eben in gewissen Milieus in Québec üblich ist. Außerdem verwendet er viele Regionalismen und Slangwörter, die jemand, der nur das europäisches Französisch kennt, einfach nicht versteht. Beim literarischen Übersetzen braucht man ja ein sehr ausgeprägtes Gespür für feine Bedeutungsunterschiede und für die Konnotationen, die bei jedem Wort mitschwingen. Dieses Gespür kann man nur entwickeln, wenn man weiß, welche Formulierungen in der Alltagssprache absolut gängig sind und welche nicht (denn der Autor verwendet sie ja aus einer ganz bestimmten Absicht), welche Wörter eher veraltet klingen, welche ganz jung, welche abgedroschen und welche nur ironisch benutzt werden. Dafür muss man meiner Meinung nach schon eine Weile in dem jeweiligen Land verbracht haben. Auch sollte man für die Übersetzung eines Romans wie Anima wissen, wie im ländlichen Québec eine Dorfkneipe oder Tankstelle aussieht, mit welcher Art von Auto die Leute über was für eine Art von Straße fahren und wie sich der Wald dort von unserem hier unterscheidet. All diese Punkte sind sehr wichtig, um eine schlüssige Atmosphäre herzustellen. Natürlich kann man so was auch recherchieren, den Autor mit Fragen löchern oder Muttersprachlerinnen zu Rate ziehen, aber erstens bedeutet das einen wesentlich größeren Aufwand und zweitens besteht trotzdem immer die Gefahr, dass einem etwas durchrutscht. Wer das Land und die Kultur seines Ausgangstextes nicht kennt, dem unterlaufen fast zwangsläufig Fehler. Ich habe ja das Glück, seit fünf Jahren mindestens sechs Monate pro Jahr in Québec zu leben. Daher ist mir die dortige Art zu sprechen sehr vertraut, und auch die Kneipen, Straßen und den Wald kenne ich mittlerweile recht gut.