quélesen hat die Autorin an einem entzückenden Frühlingstag in Berlin Dahlem auf der Terrasse des Ristorante Piaggio getroffen. Während die Sonne so langsam unterging, sprachen wir über ihren aktuellen Roman, ihren kreativen Schreibprozess und ihre Lieblingsbücher der zeitgenössischen Québecer Literatur. Dabei erzählte Kim immer wieder Anekdoten, mit denen sie ihre Art zu schreiben verdeutlichte.
Deine Romane Der Klang der Fremde und Der Geschmack der Sehnsucht, die 2010 und 2014 beim Verlag Antje Kunstmann erschienen sind, wurden positiv von der Kritik und den Lesern aufgenommen. Wie ist es für dich in den deutschen Versionen deiner Bücher, die du auf französisch geschrieben hast, zu blättern?
Kim: Ein Buch, das ich geschrieben habe, fühlt sich in dem Moment, in dem ich es in gedruckter Form erhalte, nicht mehr wie das meine an. Es wird zu einem Gegenstand, der sein eigenes Leben hat und der von mir losgelöst ist. Ich werde dabei zur Sprecherin, zur Stimme des Buches. Wenn ich die deutsche Fassung anschaue, dann denke ich wie hübsch sie ist und wenn ich dann meinen Namen auf dem Cover sehe, dann fühle ich mich beinah wie eine Betrügerin.
In Mãn, so ist der Originaltitel von Der Geschmack der Sehnsucht, erzählst du die Geschichte einer Frau, die ihre Heimat Vietnam verlassen hat, um in einer arrangierten Ehe mit einem ausgewanderten Vietnamesen in Montréal zu leben.
Kim: Als die ersten Vietnamesen ihr Land als boat people verließen, waren es überwiegend Männer. Der Grund dafür war, dass es bei den Überfahrten oftmals Überfälle und Vergewaltigungen durch Piraten gab. Deshalb entschieden sich die Männer dazu, die Frauen zurückzulassen und allein wegzugehen. In dem Moment, in dem sie in ein anderes Land gelangten, übernahmen sie Bürgschaften, um ihre Frauen nachzuholen. Die Vietnamesen, die nach Montréal oder woanders hin gelangten und die ledig waren, hatten aufgrund des Missverhältnisses zwischen vietnamesischen Männern und Frauen im Ausland keine Möglichkeit, eine Frau kennenzulernen. Im Buch wollte ich über die Situation derer sprechen, die im Alter von 20-30 Jahren ziemlich spät im Ausland angekommen sind. Sie waren bereits erwachsen und zu 100 % Vietnamesen, die in dem neuen Land nicht mehr die Gelegenheit hatten, ein neues Leben zu beginnen. Oft waren sie Arbeiter, die ihr Leben am Rande der Gesellschaft lebten. Es gelang ihnen nicht, sich zu integrieren oder Freundschaften mit Québecern zu knüpfen. Die aus Vietnam eingewanderten Männer blieben also unter sich. Die einzige Möglichkeit, eine Frau zu bekommen, bestand darin, nach Vietnam zurückzukehren.
Die Ehe ist kalt und emotionslos. Dennoch ist Mãns Leben nicht frei von Gefühlen. Sie finden sich nur woanders als in der Beziehung zu ihrem Mann. Welche Bedeutung hat das Essen für Mãn, die in der Suppenküche ihres Mannes arbeitet?
Kim: In Vietnam gründet die Heirat nicht auf der Liebe, denn die Liebe ist nicht das Hauptkriterium dafür. Man akzeptiert jemanden zu heiraten, den man einfach gut findet und der einem ein schönes und stabiles, normales Leben bietet. Das genügt als Grund. Für Mãn war es eine gute Gelegenheit einen Mann zu heiraten, der eine Arbeit hat und der normal zu sein scheint.
In der vietnamesischen Tradition gibt es natürlich die gleichen Gefühle wie überall. Der Unterschied besteht darin, dass diese Kultur nicht auf dem sprachlichen Ausdruck von Gefühlen gründet. Gefühle wie Wut und Liebe, Traurigkeit, Frust, Glück, Spaß usw. werden nicht durch Worte ausgedrückt. Wie werden die Gefühle dennoch übermittelt? Oftmals geschieht das anhand von Aufmerksamkeiten. Bei den Frauen erfolgt es traditionellerweise über die Kochkunst, d.h. man kocht ein Gericht für seinen Mann, das seine Traurigkeit lindert, man kocht für ihn sein Lieblingsgericht, usw.
Zuneigung wird immer anhand von alltäglichen Gesten ausgedrückt. Nahrung ist etwas, das wir jeden Tag mindestens 3 Mal zu uns nehmen. Die meisten vietnamesischen Frauen drücken ihre Liebe und Zuneigung über die Gerichte aus, die sie zubereiten. Somit hat das Essen im vietnamesischen Alltag eine große Bedeutung. Aus diesem Grund kommt das Essen in dem Roman so häufig vor, weil ich diese Tradition vermitteln wollte, in der die Liebe, die man für jemanden empfindet auf eine andere Art und Weise ausgedrückt wird.
Ist das Kochen der traditionellen vietnamesischen Gerichte für Mãn auch eine Art der Verbindungsaufnahme zu ihrer Heimat, die sie doch allein verlassen hat?
Kim: Es verbindet sie natürlich mit ihrer Heimat. Die vietnamesische Kultur ist eine Kultur, in der das eigene Vergnügen häufig vom Vergnügen der Anderen kommt. Zu Beginn kochte sie bestimmte Gerichte, um sich um ihren Mann zu kümmern. Darin bestand die ihr zugewiesene Rolle, sich um ihn zu kümmern und dafür zu sorgen, dass die Beziehung funktioniert. Nach einer Weile bekam sie mit, wie die Gäste sich freuten, wenn sie ihre Speisen aßen. Gleichzeitig ist die Zubereitung der unterschiedlichen Gerichte eine virtuelle Reise durch ihre Erinnerungen an Ausflüge zum Markt, die sie als Kind mit ihrer Mutter unternommen hat.
Wir haben bereits über Vietnam und Montréal als Aufenthaltsorte von Mãn gesprochen. Im Roman reist sie dann noch nach New York und Paris. Es scheint beinah so, als ob sie an jedem Ort, an den sie kommt, etwas aus ihrer Heimat wiedererkennt, sei es ein Geruch, ein Geschmack oder eine Geschichte, die erzählt wird. Gleichzeitig macht sie an diesen Orten eine Entwicklung durch. Könnte man jedem Ort eine besondere Bedeutung zuschreiben?
Kim: Es gibt ein vietnamesisches Sprichwort, in dem es in etwa heißt: „Bei jedem Schritt, den du gehst, findest du einen Korb voller Erkenntnisse.“ Die Reise nach New York bedeutete für Mãn ihren Horizont zu erweitern und offener zu werden. Sie erfuhr dort die Vielzahl an Möglichkeiten, die es gibt und dass man große Träume haben kann. Vorher war ihr größter Traum, in der kleinen Küche in Montréal zu stehen. Doch dank Julie, die sie an die Hand nahm, erkannte sie, dass es mehr gibt, dass man seine Arme und Augen weit öffnen kann. Ihr ganzes Leben hatte Mãn nur einen ausreichend tiefen Atemzug genommen, auch wenn sie hätte richtig durchatmen können. Der Ausflug nach New York war eine Lehre. Jede Stadt öffnet uns die Augen.
Danach reiste sie nach Paris und Paris ist mit Vietnam direkt verbunden. Mãn musste nach Frankreich reisen, damit ich über die vietnamesische Küche und die Beziehung zwischen Frankreich und Vietnam schreiben konnte, denn Frankreich hat zahlreiche Spuren in Vietnam während der 100jährigen Kolonialgeschichte hinterlassen, sowohl negative als auch positive.
Aus Paris kommt sie verändert nach Montréal zurück. Glücklicher oder unglücklicher?
Kim: Glücklicher sowohl als auch unglücklicher, beides zugleich. Wenn man das eine nicht gekannt hat, ist das andere nicht möglich. Es ist wie wenn man immer nur das Schwarze gesehen hat und man nicht weiß, was das Weiße ist. Im Fall von Mãn hat sie nun den Vergleich, der es ihr ermöglicht ihr eigenes Leben mit einem Abstand zu betrachten. Sie hat weitere Eigenschaften an sich selbst entdeckt, von denen sie vorher nichts wusste. Sie wusste nicht, dass sie jemanden in ihre Arme schließen konnte. Es ist so, dass man es nicht vermisst, wenn man niemals geküsst wurde. Aber sobald das einmal geschehen ist, kennt man die damit verbundene Freude und versucht, das dabei Gefühlte wieder zu finden, weil bereits kurz danach, z.B. nach einem Kuss, die Sehnsucht nach einem weiteren entsteht.
Der Roman endet damit, dass Mãn in der Sehnsucht zu einem anderen Mann namens Luc in Montréal lebt. Wir wissen nicht, ob sie ihren Gefühlen nachgeht, ob es ein Wiedersehen geben wird.
Kim: Mãn wäre nicht in der Lage, ihre Familie zu verlassen, weil sie dazu erzogen wurde, für andere zu leben. Sie könnte auch niemals ohne ihre Kinder leben. Deshalb endet der Roman so wie er endet, auch wenn viele Leser sich nach der letzten Seite fragen: „Und nun?“ Sie wartet. Sie kann keine Entscheidung treffen. Sie kann lediglich versuchen, den Schmerz auszuhalten. Es ist ein Schmerz, der ihr aber auch gezeigt hat, was es heißt, zu lieben. Sie hat gelernt, dass sie liebt und dass sie ihren Kindern dadurch ihre Liebe zeigen kann. Deshalb ist diese Erfahrung nicht unnütz und schmerzhaft. Es reicht ihr beinah, dass sie gelernt hat, zu lieben. Was den Rest angeht, wartet sie.
Wir hätten gerne noch weitergelesen, Mãn noch ein wenig länger in ihrem Leben begleitet.
Kim: Die letzte Seite habe ich am 1. Januar 2013 geschrieben. Draußen schneite es und ich wollte nicht, dass es vorbei ist, weil ich das Umfeld und die Figuren mochte. Ich wollte sehen, was sie macht, wie sie mit dem Schmerz umgeht. Deswegen habe ich die nächsten 2 Tage weitergeschrieben. Als ich das dann gelesen habe, habe ich es wieder gelöscht, denn das Ende war schon seit dem 1. Januar vorhanden. Es ist wie ein innerer Rhythmus, der dir sagt: „This is it. Give it up. Leave.“ Ich war traurig, weil die Geschichte zu Ende war. Wir kennen das Ende der Liebesgeschichte der Großmutter, die weiß, dass ihr Geliebter weiterhin an sie denkt. Wird Luc weiterhin an Mãn denken? Man weiß es nicht. Ich konnte die Figuren nicht weiterschreiben.
Es ist komisch, als ich fertig war, stellte ich fest, dass beide Romane einen Umfang um die 142-143 Seiten hatten. Es ist fast so, als ob das die Länge für meine Geschichten ist.
Deine Romane fallen durch eine Struktur auf, die fragmentarisch ist, die beinah wie ein Mosaik aus unterschiedlich langen Texten besteht, die selten länger als 2 Seiten sind. Wie entstehen deine Romane?
Kim: Ich arbeite nicht nach einer bestimmten Struktur und ich kann nicht vorhersehen oder etwas in meinen Texten forcieren. Laure Adler, die die Biographie über Marguerite Duras geschrieben hat, hat mich in Paris interviewt. Sie sagte mir, die Hauptfigur in Mãn sei nicht die Tochter, sondern die Mutter. Sie hatte Recht. Als ich den Roman zu schreiben begann, wollte ich die Geschichte der Mutter erzählen und nicht die der Tochter. Aber während des Schreibens nahm die Tochter den ganzen Platz ein und es wurde zu ihrer Geschichte. Gleichzeitig kann die Geschichte der Tochter nicht ohne die der Mutter existieren.
Das Leben ist so: Um zu erklären, warum das Essen so bedeutend in der vietnamesischen Kultur ist, muss ich weiter ausholen und zurück gehen. Für mich ist die Struktur meiner Romane logisch und nicht einem Mosaik ähnlich. Ich erzähle eine Geschichte und man hat den Eindruck, ich erzähle irgendwas, aber ich muss das alles erzählen, damit der Leser etwas versteht. Ich zähle die Details auf, um dem Leser das große Ganze zu vermitteln. Das ist meine Art, Dinge zu erklären.
Auf jeder Seite in dem Roman gibt es am Rand ein vietnamesisches Wort und dessen Übersetzung ins Deutsche. Das ist nur eine Art, verschiedene Sprachen in die Geschichte zu integrieren. Wie kam es dazu?
Kim: Die Idee hatte ich unter der Dusche. Anfangs waren es Arbeitsnotizen. Ich notierte einige Wörter. Dann, nachdem mich einige Leser baten, ihnen ihr Exemplar in vietnamesischer Sprache zu signieren und sie dann enttäuscht waren, weil sie chinesische Zeichen anstelle von römischen Buchstaben erwartet hatten, wollte ich die vietnamesische Sprache mit ihren vielen Akzenten graphisch veranschaulichen. Ich wollte, dass die vietnamesischen Wörter an der Seite des Textes in einer anderen Farbe gestaltet sind, dass sie blasser sind, damit sie den Lesefluss nicht stören. Es ist für mich ein eher graphisches Element, das keinen Inhalt der Geschichte vermittelt.
Und zum Abschluss habe ich noch eine Frage: Hast du zur Zeit ein Lieblingsbuch aus Québec?
Kim: Nicht nur ein einziges Lieblingsbuch. Ich bin ein großer Fan von Pierre Gagnon. Dann gibt es noch Matthieu Simard, Et au pire, en se mariera von Sophie Bienvenu, ihr erster und bisher einziger Roman, La liste von Jennifer Tremblay und Lullabies for Little Criminals von Heather O’Neill. Es gibt so viele. Ich bin auch ein großer Fan von Dany Laferrière. Und es gibt ein Gedicht, dass es unbedingt zu lesen gilt: „La marche à l’amour“ von Gaston Miron.