Auf meinem Weg zum Centre des congrès de Québec, wo die Messe stattfand, zeigten sich noch Spuren des Winters in Form von hohen Schneebergen, die die Sonne nur langsam zum Schmelzen brachte, und eines knackigen Winds, der durch die Straßen wehte. An insgesamt fünf Tagen konnten sich Buchinteressierte jeden Alters über die aktuellen Verlagsprogramme informieren, Autorinnen und Autoren treffen und das Bühnenprogramm verfolgen. Ich tat dies an den ersten drei Tagen.
An Tag 1 schlenderte ich wie in einem Traum durch die Gänge, verschaffte mir einen Überblick von der Messe, auf der ich zum ersten Mal war. Ich war neugierig auf die Neuerscheinungen und darauf, wen ich wohl nach langer Zeit mal wieder treffen und trotz Maske wiedererkennnen würde.
Als erstes blieb ich am Stand von La Peuplade stehen, ein Verlag, den ich schon viele Jahre kenne und bei dem Bücher wie Le poids de la neige von Christian Guay-Poliquin – inzwischen in der Übersetzung von Sonja Finck und Andreas Jandl in Deutschland erschienen –, Le lièvre d’Amérique von Mireille Gagné – ebenfalls auf Deutsch zu lesen, in der Übersetzung von Birgit Leib –, À la recherche de New Babylon von Dominique Scali und auch die französische Übersetzung der Bücher von Dimitri Nasrallah. Am Verlagsstand sah ich den neuen Roman von Christian Guay-Poliquin: In Les ombres filantes, in gewisser Weise die Fortsetzung von Le poids de la neige, bricht der verunglückte und wieder genesene Protagonist dieses Buchs auf, um seine Verwandten im Wald zu finden. Ebenfalls neu im Programm waren Au temps sublime von Louise-Amada D. und Mouron des champs von Marie-Hélène Voyer, die mir der Lektor und Autor Paul Kawczak kurz vorstellte. Während Au temps sublime ein Roman des Vergessens und ein Schreibtagebuch ist, der von der unerschrockenen Prosa einer Violette Leduc inspiriert ist, versammelt Mouron des champs Gedichte, die vom harten und verstrickten Leben von Bauerntöchtern und unermüdlich arbeitenden Müttern erzählen.



Beim weiteren Schlendern durch die Gänge entdeckte ich auf den Buchcovern bereits bekannte Namen wie Gabrielle Filteau-Chiba (Encabanée, Sauvgines & Bivouac, XYZ), Gilles Pellerin (Horoscopie, L’Instant Même), Marie-Sissi Labrèche (225 milligrammes de moi, Leméac), Élise Turcotte (À mon rétour, Noroît), Louise Dupré (Tout près, Noroît), Gabrielle Bouliane-Tremblay (La fille d’elle-même, Marchand de feuilles), Louis-Karl Picard-Sioui (Hannenorak) und Stéphane Dompierre (Novice, Québec Amérique). Ich entdecke aber auch ganz neue Stimmen wie z.B. Samian (La plume d’aigle, Mémoire d’encrier) und Akim Gagnon (Le cigare au bord des lèvres, La Mèche), den ich als Regisseur zahlreicher Musikvideos kenne.


Im Inneren war es hell und freundlich, hier und da warteten liebevolle Details. Meine Augen wanderten über Buchrücken, blieben an bekannten Namen hängen, freuten sich, sie zu sehen. Nach meiner Runde durch das Geschäft, unterhielt ich mich mit Jean Sioui, der zahlreiche Bücher veröffentlicht hat, zuletzt den Erzählband Yandate – au bout de ma rue bei Hannenorak und den Gedichtband Au couchant de la terre promise bei Mémoire d’encrier. Auch Kinderbücher hat er geschrieben. In der Buchhandlung seines Sohnes erzählte er mir, wie er zum Schreiben gekommen ist. „Das ist eine lange Geschichte“, begann er und berichtete, wie er von Wendake auf einen kleinen Bauernhof und dann wieder zurück nach Wendake gezogen ist. „Meine Frau wollte ein Geschäft eröffnen, weil viele Touristen nach Wendake kamen. Also haben wir hier einen Eisladen eröffnet. Weil die Touristen aber hauptsächlich aus Frankreich kamen und somit keine großen Eisfans waren, lief das Geschäft nicht so gut. Daher beschlossen wir, auch Kunst auszustellen. Ich schrieb Gedanken und Gedichte auf Holzstücke, weil ich schon immer gerne geschrieben habe. Für mich. Meine Frau sagte zu mir: ʻDu kannst schreiben und solltest das machen.ʼ Und es hat auch Leute interessiert, denn sie kauften die Stücke. Im Herbst machte der Eisladen dann zu und jemand sagte zu mir, ich solle ein Buch schreiben und davon leben. Aber ich hatte davon keine Ahnung. Ich war Informatiker, arbeitete im Stadtzentrum von Québec. Eines lieben Tages bin ich dann mit meinen in einem Karton zusammengesammelten Texten losgezogen. Ich hatte nach einem Verlag geschaut, der in der Nähe meines Büros war, wusste aber überhaupt nicht, wie das mit dem Veröffentlichen funktionierte und bin an einem meiner mittäglichen Spaziergänge mit meinen Texten zu Loup de Gouttière gegangen. Ich traf auf die Eigentümerin und sagte zu ihr: ʻSehen Sie, dass habe ich geschrieben. Ist das was zur Veröffentlichung?ʼ Und sie: ʻAch herrje, so funktioniert das nicht.ʼ“ Allerdings traf er Madame Vernac an einem Tag, an dem sie fürs Wochenende mal etwas anderes, ruhiges plante und so bat sie ihn, seine Texte dazulassen. Am darauffolgenden Montag hatte er eine Nachricht auf seinem Büro-AB, sie wollte seine Texte veröffentlichen. Und so fing die Autorenkarriere von Jean Sioui an. Sein erstes Buch, der Gedichtband Le pas d’indien, erschien 1997 bei Le Loup de Gouttière in Québec (Stadt).
2002 war der Autor 55 Jahre alt und verabschiedete sich von seinem Bürojob in die Rente. Er schrieb sich an der Uni von Laval ein und studierte literarisches Schreiben und indigene Studien. Er gab vom Conseil des Arts du Canada geförderte Schreibresidenzen für indigene Nachwuchsautor·innen und schrieb nebenbei eigene Bücher. Zuletzt die zwei, die er auf der Buchmesse vorgestellt hat. Eins davon war nicht geplant, hatte sich aber aufgrund des aktuellen Zeitgeschehens ergeben, als er gerade an seinem Erzählband Yandata geschrieben hat.
Ich wollte mehr über Hannenorak erfahren, also nutzte ich meinen Besuch auch für ein Gespräch mit dem Inhaber und erfuhr, dass Daniel Sioui die kleine, auf Literatur der Premières Nations spezialisierte Buchhandlung 2009 gegründet hat, weil er diese Bücher nirgends finden konnte. Anfangs war die Buchhandlung eigentlich ein Café mit einer kleinen Buchecke. Dann kamen immer mehr Bücher dazu, sodass es keinen Platz mehr für das Café gab. Seit 2019 hat die Buchhandlung eine neue Adresse und gehört als Sortimentsbuchhandlung zum Netzwerk der unabhängigen Buchhandlungen Québecs. Das Angebot an Büchern indigener Autorinnen und Autoren ist aber immer noch groß.
Daniel Sioui hat einen Doppelrolle. Er ist Buchhändler in der Buchhandlung Hannenorak und auch Verleger beim gleichnamigen Verlag. Den Buchhändler habe ich nach den Büchern gefragt, die sich am besten verkaufen. Seine Antwort: Michel Jean. Dessen Buch Kukum ging im letzten Jahr am häufigsten über den Ladentisch, gefolgt von Büchern von Dawn Dumont, Jocelyn Sioui, Naomi Fontaine und Joséphine Bacon. Und den Verleger habe ich nach einem Autor gefragt, dessen Bücher er herausgibt: Louis-Karl Picard-Sioui. Ich war neugierig, wann es mit den Chroniques de Kitchike, dessen erster Band bei Secession auf Deutsch erschienen ist, weitergeht. „Er arbeitet daran“, sagte Daniel Sioui, „im Herbst soll Band 2 erscheinen.“ Und dann gab er mir noch mit auf den Weg, den Autor darauf anzusprechen, falls ich ihn sehen würde, denn die Veröffentlichung hat sich bereits um ein Jahr nach hinten verschoben.
Zum Ende meines Besuchs in der Librairie Hannenorak wollte ich von ihm noch seine aktuellen Favoriten wissen. Nach kurzer Überlegung nannte er Ici n’est plus ici von Tommy Orange (Albin Michel) und Wendy von Walter Kaheró:ton Scott, ein Comic über eine junge Frau und ihren Alltag (Mécanique générale).

„Als das Buch herausgekommen ist, haben es viele Leute aus meiner Community oder von anderen Premières Nations gekauft, nachdem sie davon gehört hatten. Was das breitere Québecer Lesepublikum angeht, hat es etwas länger gedauert, bis das Buch seinen Platz gefunden hat. So ist es mit Büchern, sie müssen ihren Platz finden. Leider gibt es viele davon, denen das nie gelingt“, erzählte er mir im Messegetummel und ergänzte, dass er das Glück hatte, dass Menschen der Öffentlichkeit wie Michel Jean oder David Goudreault über sein Buch gesprochen haben und ihm somit zu mehr Aufmerksamkeit verholfen haben. Er spricht auch von einer gewissen Erleichterung, die er verspürt hat, als der erste Band rausgekommen ist, denn: „Wenn du Autor bist, lebst du mit deinen Figuren und der Welt, die du in deinem Kopf entwickelst allein. Du kannst mit anderen zwar darüber reden, aber wenn sie sich nicht in deinem Kopf befinden, müssen sie es gelesen oder sonst wie Zugang dazu gehabt haben. Ich bin also ganz froh, dass das Buch jetzt nicht mehr nur meins und die erschaffene Welt nicht mehr nur meine ist, sondern dass es Menschen gibt, die sich darin erkennen und auf eine Fortsetzung warten. Das ist echt cool.“
Ich habe Stories aus Kitchike – Der große Absturz in der deutschen Übersetzung von Andreas Jandl und Sonja Finck gelesen und bin gespannt, wie es mit den Figuren weitergeht. Was er darüber sagen kann, wollte ich von Louis-Karl Picard-Sioui wissen. Er sagte: „Das zweite Buch wird umfangreicher sein, vielleicht nicht dieselbe Gruppe Lesender ansprechen“ und schob nach, dass in diesem erneut mehrstimmigen Roman hauptsächlich Frauen erzählen, z.B. die, die beim Dépanneur arbeiten. Inhaltlich rücken wirtschaftliche Probleme in den Fokus und der Autor verspricht, Antworten zu liefern auf Fragen, die im ersten Buch vielleicht offen geblieben sind. Worauf sich die Lesenden noch einstellen können, ist etwas mehr Metaphysik, mehr Übernatürlichkeit. Ansonsten ist es, wie schon im ersten Buch, eine Mischung aus lustigen und tragischen Geschichten in verschiedenen Tonlagen: „Die verschiedenen Tonlagen beizubehalten, war mir besonders wichtig, denn mit Kitchike wollte ich aufzeigen, dass die Indigenen nicht alle gleich sind, sogar innerhalb einer Community denken die Leute nicht alle gleich. Sie haben unterschiedliche Interessen, verschiedene Sichtweisen, unterschiedliche Tonlagen und das spiegelt sich in der Vielfalt derjenigen wieder, die erzählen.“ Und dann erklärte er noch: „Die Welt von Kitchike habe ich so entworfen, dass jedes Projekt unabhängig von den anderen funktioniert. Es ist also nicht nötig, das erste Buch gelesen zu haben und auch nicht das Theaterstück ʻL’enclos de Wabushʼ , das zur gleichen Zeit spielt wie Buch 2. Du musst auch nicht ʻHannibalo-God-Mozilla contre le Grand Vide cosmiqueʼ, eine Kurzgeschichte aus Kitchike im Buch Amun gelesen haben. Auch wenn du das alles nicht gelesen hast, kannst du trotzdem einsteigen. Allerdings glaube ich, dass eine Person, die das Theaterstück gesehen, die Kurzgeschichte in Amun und auch Stories aus Kitchike – Der große Absturz gelesen hat, mehr davon hat.“
Zum Ende unseres Gesprächs verrät er mir dann noch, dass er mal ein paar Wörter Deutsch gelernt hat: „Als Kind verbrachte ich anderthalb Monate in Wien. Der Cousin meiner Oma ist mit einer Österreicherin verheiratet und hatte im Wiener Umland ein Chalet. Ich war mit meinem Opa und seiner Schwester dort. Wir sind auch ein bisschen durch Deutschland gereist und haben einen Ausflug nach Venedig gemacht. Ich war etwa 13. Es war wunderschön. Und ich habe ein paar Brocken Deutsch gelernt. Ich erinnere mich leider nicht mehr an viel: Guten Morgen, guten Tag, danke.“ Und danke sagte ich auch zu ihm, für dieses spontane Gespräch, und drehte eine weitere Runde auf der Buchmesse.
Nach drei Tagen näherte sich mein Aufenthalt in Québec langsam dem Ende. Ich hatte viele Eindrücke gesammelt, Menschen wiedergetroffen und neue Kontakte geknüpft. Mit einer Handvoll Bücher trat ich die Heimreise an, während das Wetter sich noch einmal von seiner winterlichen Seite zeigte. Meinen schweren Koffer zog ich bis zum Busbahnhof durch feuchten Schneematsch. Von dort fuhr ich wieder nach Montréal, wo ein paar Stunden später mein Flug nach Berlin ging. Und in Berlin, wo ich am Flughafen schon wieder in maskenlose Gesichter schauen konnte, fragte ich mich, ob die letzten Tage nicht doch in Wahrheit geträumt waren.
Ich danke der AIEQ für Ihre Einladung nach Québec und zum Salon du livre! Der findet 2023 vom 12. bis 16. April statt. Weitere Informationen dazu gibt es auf silq.ca.