Oss von Audrée Wilhelmy

3. März 2022 | quélesen

Ein Text von Alissa:

Die junge, hochgewachsene Noé ist längst kein Kind mehr, doch in den Augen der Bewohner des Fischerdorfes Oss bleibt sie „La Petite“ (Die Kleine). Zwischen der grausamen Obhut der dicken Hexe Grumme und einer von Gewalt gezeichneten Affäre mit dem Prediger Lô scheint die schweigsame Noé in schrecklicher Unfreiheit zu leben. Gleichzeitig umgibt die kaum greifbare Hauptfigur eine mysteriöse Stille. Und als Grumme und Lô bei einem Feuer umkommen, verlässt Noé schließlich das Dorf. Im Zirkus des Nachbarortes Fort-Bouteille lädt man sie wegen ihrer betörenden Singstimme zum Bleiben ein, aber „La Petite“ will fort – wohin, das weiß man nicht.

Plötzlich trifft Noé auf den jungen Rameau, der auch aus Oss stammt. Er fühlt sich schon lange von der jungen Frau zugleich angezogen und abgestoßen. Jetzt, da sie endlich aus den Zwingen von Grumme und Lô befreit ist, will er sie für sich beanspruchen. Rameau präsentiert sich als Retter, doch seine Worte erreichen Noé nicht. Vor sich hin singend läuft sie weiter, während der in Rage geratene Rameau zu immer aggressiveren Mitteln greift, um sie aufzuhalten.

Oss ist der mythologisch gewebte und mit poetischer Präzision geschriebene Debütroman von Audrée Wilhelmy und aus ihrem Master in Kreativem Schreiben hervorgegangen. Die Figur Noé ist Teil des magisch-wilden Universums, dessen Grundskizzen hier angelegt sind und das Wilhelmy in Le corps des bêtes weiter vertieft.

Audrée Wilhelmy lebt und arbeitet in der Nähe von Montréal. In ihren Texten erkundet und pervertiert sie Mythologien und Märchenwelten. Die seit zehn Jahren tätige Schriftstellerin arbeitet interdisziplinär (Fotografie, Malerei, Lithographie) und ist auch in Frankreich erfolgreich. Im September 2021 ist bei Leméac als Fortsetzung von Oss das Buch Plie la rivière erschienen, das als zweiter Teil einer Trilogie konzipiert ist.

Audrée Wilhelmy: Oss
Roman
Leméac (Collection Nomades), 2019
72 Seiten
7,95 $
Ein Zitat:
« En dehors du village, les lignes d’horizon changent. Sitôt franchies la barrière de la route et la forêt très mince, il ne reste que des plaines de blé fauché et quelques îlots d’arbres drus.
Noé ignore où elle va. Elle avance, ses bottines pendent sur son épaule, la boue lui rafraîchit les pieds. Ses jupons se sont déchirés sur la grève, ils traînent derrière elle, elle marche dessus de temps en temps, mais elle n’en a rien à faire: le sol de la campagne est doux entre les orteils, la terre est froide, humide, molle sous les talons, et pourtant sa texture n’a rien à voir avec celle du sable mouillé. » – Audrée Wilhelmy: Oss, Leméac (Collection Nomades), 2019, S. 33