Momente vom FIL 2021

30. November 2021 | Reportage

Ein Text von Alissa:

Das Festival international de la littérature fand in diesem Jahr vom 24. September bis zum 3. Oktober in Montréal statt. Für quélesen habe ich mir drei Veranstaltungen angeschaut: „Au cœur d’Aïko“, „Bruits textures“ und „Akuteu“.

Als Erstes gehe ich zu „Au cœur d’Aïko“. Die Lesung basiert auf Texten von Aki Shimazaki. Die Autorin zog vor vielen Jahren von Japan nach Kanada, wohnt heute in Montréal und schreibt in französischer Sprache. Dieses Jahr wurde sie für ihren Roman Tsubaki (Lemác 1999/2015 & Actes Sud 2015; dt. Tsubaki, übers. v. Bernd Wilczek, Antje Kunstmann Verlag, 2003) mit dem Prix Hervé-Foulon ausgezeichnet. Ihr Roman Yamabuki, der 2013 bei Leméac erschienen ist, diente Catherine Allard als Vorlage für die Inszenierung „Au cœur d’Aïko“ im Rahmen des FIL.
Es ist Dienstag, der 28. September im Fünften Saal im Place des Arts, 19 Uhr. Der Raum ist etwa halb voll, leise plätschern Gespräche im Hintergrund. Polstersitze und gedimmtes Licht schaffen eine fast intime Stimmung. Einmal an seinem Platz angekommen, darf die Maske sogar abgesetzt werden, ein hohes Zugeständnis. Wie in einem Atrium sitzen wir im abfallenden Halbrund um die in Dunkelheit gehüllte Bühne, auf der drei schwarze Bänke stehen.
Sylvie de Morais-Nogueira tritt als Aïko auf die Bühne und setzt sich auf die mittlere Bank. Drei Rechtecke, die an Fenster erinnern, werden auf die hintere Wand projiziert. Wechselnde Lichtanimation und Geräuschkulisse ergeben zusammen mit den Bänken ein sich schnell wandelndes Bühnenbild. Mal sitzt Aïko an einem Regentag im Zug, mal in einem Restaurant oder bei einer Bekannten.

© Marie-Andrée Lemire

„Au cœur d’Aïko“, im Herzen von Aïko tauchen wir in die Welt der Japanerin. Sensibel und scharfsinnig poetisch erzählt die inzwischen alt gewordene Aïko von den Anfängen ihres Ehelebens. Von ihrem ersten Ehemann muss sie sich scheiden lassen, weil sie ihm in drei Jahren kein Kind gebärt. Das ist so Sitte. Dann trifft sie während ihrer Ausbildung zur Teemeisterin im Zug nach Tokio einen schönen Fremden. Bei ihrem ersten Telefonat ist er überraschend selbstbewusst, obwohl er an seinem Arbeitsplatz ist; bei ihrem ersten Treffen hält er dann direkt um ihre Hand an. So schnell? Aïko ist perplex; sie kennen sich doch kaum.
Eine gute Stunde lang füllt die Schauspielerin den Raum und hält die Spannung alleine mit ihren Lektüren. So ist der Auftakt zu meinem ersten Präsenz-Literaturfestival in zwei Jahren bedächtig und kurzweilig. Ich bin neugierig auf das, was mich noch erwartet.
Nach der ruhigen Poesie Shimazakis treffe ich bei „Bruits textures“ auf eine sehr ausgelassene Stimmung. Es ist Freitagabend, der 1. Oktober. An der U-Bahnstation Berri-UQAM schwemme ich mit einer bunt gemischten Menschenmenge hinaus in die Nacht. Ein paar steuern wie ich das Auditorium der Bibliothèque et Archives nationales du Québec, kurz BAnQ, an, wo sieben Québecer Dichterinnen ihre Poesie vortragen.
Die Veranstaltung basiert auf der Anthologie de la poésie actuelle des femmes au Québec 2000-2020 (Remue-ménage, 2021). Vanessa Bell und Catherine Cormier-Larose, die beiden Herausgeberinnen, haben sich dabei von der ersten Anthologie de la poésie des femmes au Québec – des origines à nos jours inspirieren lassen. Diese hat die Dichterin Nicole Brossard, eine wichtige Stimme der Québecer Literatur, gemeinsam mit Lisette Girouard vor dreißig Jahren bei Remue-ménage herausgegeben. Im Auditorium der BAnQ sitzen auf der wohnlich gestalteten Bühne Carole David, Daria Colonna, Catherine Lalonde, Sina Queryas, Claudine Vachon, Roxanne Desjardins und Lorrie Jean-Louis. Im Halbdunkel erkennt man zunächst nur ihre Silhouetten.
„Si l’avenir est une femme, le présent appartient indéniablement à leur parole“, („Wenn die Zukunft weiblich ist, gehört die Gegenwart unbestreitbar den Worten der Frauen“), so kündigt das FIL die Veranstaltung auf der Website an. Das Programm ist also klar, hier wird ein Stück feministische Geschichte geschrieben. Dementsprechend jung und künstlerisch interessiert ist auch das Publikum, das das gemütliche Dämmerlicht mit Unterhaltungen und Gelächter füllt.
Einer der Stühle wird in helles Scheinwerferlicht getaucht. Die erste Dichterin, Daria Colonna, erhebt sich. Sie liest etwa zehn Minuten aus ihrem Gedichtband La voleuse (Poètes de brousse, 2021). Ihre Performance ist beeindruckend, die Rhythmik erinnert mich an Poetry Slam. Die anderen Dichterinnen verbleiben bewegungslos im Halbschatten. Dann erlischt das Licht, Dunkelheit breitet sich aus über die gespannte Stille im Raum. Es ist, als halte das Publikum den Atem an.
Nach einer kleinen Weile erleuchtet nun der Platz von Lorrie Jean-Louis. Im vergangenen Jahr wurde sie für ihren ersten Gedichtband La femme cent couleurs (Mémoire d’encrier, 2020) vom Conseil des arts et des lettres du Québec mit dem Preis Œuvre de la relève à Montréal ausgezeichnet. Ihr Rhythmus ist langsamer, die Worte gesetzter – aber nicht weniger kraftvoll.

© Marie-Andrée Lemire

Eine nach der anderen präsentieren die Dichterinnen sich selbst und ihr Werk. In ungezwungener Wohnzimmeratmosphäre scheinen sie sich vor allem gegenseitig vorzulesen. Auf ihren Stühlen drehen sie sich manchmal wie aus einer spontanen Eingebung heraus zur Vortragenden. Oder sie fläzen sich, den Worten der anderen lauschend, auf den Boden. Es ist ein Lesekreis unter Schwestern, aber auf einer großen Bühne bei einem internationalen Literaturfestival. Ein besonderer Moment, hier Einblick in diese poetische Intimität zu bekommen.
Die Texte sind andächtig, wachrüttelnd, schmerzhaft, eindringlich. Es geht um Frau-Sein, Körper-Sein, um andere Frauen, um Männer, um Mütter und Töchter, um Montréal, um Ängste, Verletzungen, Stigmata, Rassismus.
Auf berührende Weise erzählt die Dichterin und Performance-Künstlerin Claudine Vachon von ihrer Liebe zu ihrer Tochter. Plötzlich legt sie sich auf den Boden und macht … Situps. Wenig später liest sie einen Teil des Textes in Liegestützposition. Und faltet einen Text über die halbe Bühne. Irgendwie ist so der ganze Abend: voller Kontraste.
Als krönenden Abschluss erhebt sich Carole David von ihrer Chaiselongue hinten links. Andächtig lauscht das Publikum ihrem kurzen Vortrag – denn die Dichterin ist eine Art Institution in der Québecer Poesieszene.
Meine eigene Rührung scheint mir gering angesichts der Stimmung im Saal nach den gut 60 Minuten Poesie. Vier Standing Ovations, tosenden Beifall, zwei Sonderehrungen und eine emotionale Abmoderation später ist mir klar: Die Poesieszene in Montréal ist jung, lebendig, kraftstrotzend – und sie ist zu wichtigen Teilen weiblich. Frauen haben hier Machtpositionen. Sie sind Herausgeberinnen, schreiben Biographien, beherrschen die Bühne, bekommen Preise, feiern gemeinsam.
Erfüllt und dankbar für die subversive Vielfalt fahre ich an diesem Abend nach Hause.

Am nächsten Tag spaziere ich um halb vier durch den Parc Lafontaine und über die Rue Ontario zum Théâtre Prospero. Unterwegs begegnet mir das eine oder andere verkaterte Wesen und auch im Saal ist die Stimmung angeregt, aber nüchtern – eine typische Nachmittagsveranstaltung eben und schon die letzte, die ich auf dem diesjährigen FIL besuche.
Soleil Launière ist Innu, aber hat ein weißes Passing: Menschen, die sie nicht kennen, halten sie für weiß. Sie hat den Text „Akuteu“ geschrieben und mit sich selbst als Darstellerin inszeniert. Darin spricht sie über ihre Innu-Identität und -Kultur, ihr Leben in Montréal und besonders über Widersprüche und Absurditäten, die oft einfach Teil der Realität sind.
Ich bin sofort in ihrem Bann. Mit dem Rücken zum Publikum sitzt Soleil auf dem Boden, die Beine in von der Decke hängenden Seile geschlungen. Gleich zu Beginn spricht sie uns als Publikum direkt an. Sie habe Angst vor Menschenmengen, Angst vor uns. Aber es ist ihr wichtig, ihre Erfahrungen mit uns zu teilen.

Mich beeindruckt besonders ihre Art, die Dinge so zu sagen, wie sie sind, ohne sie größer oder kleiner zu machen. Liebevoll spricht sie von Ritualen, der Präsenz der Bäume vor ihrem Montréaler Fenster, der Verbindung zur Natur und den Ahnen. Dann gibt sie selbstironisch zu, selbst kaum Innu zu sprechen und vieles über ihre Kultur aus dem Internet gelernt zu haben. Und fragt wieder uns: „Ändert das jetzt das Bild, das ihr von mir habt?“
Sie spricht auch vom Alltagsrassismus und der kommerzialisierten Diversität als ‚Indigene‘ in der Québecer Schauspielszene. Innu, Innuk, Algonquin – alles das Gleiche? Wohl kaum.
Am Ende hängt Soleil kopfüber in der Luft und liest über lange Minuten eine stark gekürzte Liste der indigenen Frauen, die in den letzten Jahren verschwunden sind. Es gibt mehrerer solcher unbequemer, schmerzvoller Momente. Aber dazwischen ist es auch komisch.

Die Performance ist intim, fröhlich und queer. Anklagend, aber nicht dämonisierend. Insgesamt spricht eine beeindruckende Resilienz aus ihren Worten. Ich wäre gerne befreundet mit diesem Menschen, denke ich mehrmals während der Vorstellung.

Vom diesjährigen FIL nehme ich ein Gefühl von weiblicher Verbundenheit im Literaturbetrieb mit. Die Offenheit der Texte und die starke Lebendigkeit der Vorträge haben vor allem nach den langen Monaten der Online-Veranstaltungen gut getan und große Lust auf mehr gemacht.
2022 gibt das FIL wieder vom 23. September bis zum 2. Oktober.