Eindrücke von Beate Thill aus Montréal #2

15. Dezember 2017 | allgemein

Vom 15. bis 20. November 2017 fand in Montréal der Salon du livre zum 40. Mal statt. In diesem Jahr waren Verleger und Übersetzer aus Deutschland vor Ort. Beate Thill teilt auf quélesen ihre Eindrücke von der Stadt und vom Québecer Buchmarkt. Sie ist literarische Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie übersetzt aus dem Englischen und Französischen, hauptsächlich Literatur aus Afrika und der Karibik. Zuletzt hat sie den Debütroman von Dany Laferrière Comment faire l‘amour avec un nègre sans se fatiguer ins Deutsche übersetzt. Er ist beim Verlag Das Wunderhorn erschienen, wo auch Tagebuch eines Schriftstellers im Pyjama und Das Rätsel der Rückkehr veröffentlicht worden sind. Für Das Rätsel der Rückkehr wurden Dany Laferrière und Beate Thill 2014 mit dem Internationalen Literaturpreis vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin ausgezeichnet.

Text #5 von Beate Thill

Der Salon du livre von Montréal ist neben dem Frühjahrssalon in Québec (Stadt) eine Institution. Im Unterschied zu der Frankfurter Buchmesse werden die Bücher verkauft. Den ganzen Tag bis in den Abend herrscht großer Andrang, es kommen auch viele Schulklassen.
Ein Literaturkritiker verschaffte uns mit seiner Bestenliste von zehn Romanen einen ersten Überblick über die Titel der Saison. An den fünf Tagen absolvieren wir dann im Halbstundentakt Einzelgespräche mit Verlegern. Ein besonderer Erfolg ist Le plongeur von Stéphane Larue beim Verlag Le Quartanier, ein Buch aus dem Bauch der Gastronomie. Der Kritiker rechnet es noch zur vergangenen Phase, wo die Autoren vor allem das Leben in der Großstadt beschrieben. Offenbar gibt es gerade eine Rückkehr zu den Wurzeln, aufs Land, etwa mit dem ebenfalls sehr erfolgreichen Roman Le poids de la neige von Christian Guay-Poliquin bei La Peuplade. Weitere Autoren, auf die hingewiesen wurde, waren Catherine Mavrikakis und die junge Audrée Wilhelmy, die bereits mehrere erfolgreiche Romane publiziert hat, wie Le corps des bêtes bei Leméac, ein Buch über Inzucht in den entlegenen Regionen.
Auch bei den Verlagen sprach man von einem Aufschwung in der Literatur, mit zahlreichen neuen Autoren um die Dreißig, die eine eigene Stimme entwickeln, aber weiter in dem bekannten Stil von Québec schreiben, der ungeschminkt, bodenständig, häufig sarkastisch und immer witzig ist. Die Tipps des Kritikers tauchten oft wieder auf, so dass sich die wichtigen Bücher herauskristallisierten.
Bei den typischen Cocktails de 5 à 7 hatten wir Gelegenheit, die Gesprächspartnerinnen (fast alle weiblich) besser kennenzulernen. Das Konzept von Association nationale des éditeurs de livres mit unserer Einladung ging also auf und wurde noch gekrönt von Interviews mit den beiden wichtigsten Tageszeitungen Le Devoir und La Presse.

 

Text #6 von Beate Thill

Wie so manches Mal bewegte sich auch unser Aufenthalt in Montréal auf einen Höhepunkt zu, so dass der Abschied schwer fiel. Bei einem weiteren Empfang mit großzügigem Buffet verteilte die Chefin der Buchmesse Glückwünsche an die Verlage für jeden runden Geburtstag, der bei fünf Jahren anfing. Hier zeigte sich wieder, wie viele junge Verlage es gibt, eine lange Reihe von VerlagsmitarbeiterInnen nahm die hellgrünen Schildchen aus Plexiglas in Empfang, die uns bei unseren Besichtigungen in ihren Büros schon aufgefallen waren.
Bei dem folgenden Abschiedsessen mit unseren Gesprächspartnern aus den Québecer Verlagen begrüßten wir sie schon wie Bekannte, und an dem langen Tisch wurde angeregt diskutiert, über Bücher, aber auch über persönliche Themen. Beim Lob des guten Essens erfuhr ich, dass die Bewohner von Montréal gerne an mehreren Abenden in der Woche ausgehen, zum Essen oder zu anderen Vergnügungen. Es wurde auch über das komplizierte Verhältnis zwischen Franzosen und Québecern geredet – ein ironisch kommentiertes Spiel von Nähe und Distanz. Nach dem Schmaus gingen wir gemeinsam noch zur Buchmessenparty in den Lion d‘or. Sie war in einem großen, etwas altertümlichen Saal mit DJ auf der Bühne schon voll in Gang, viele Leute tanzten. Wir machten einfach mit, hatten sehr viel Spaß.
Am letzten Abend kam dann noch für mich die Gelegenheit, Jazz zu hören. Im bekannten Club Dieze Onze, wieder einmal an der rue Saint-Denis, fand Sonntagabend ein Vocal Jam statt, wo jede Sängerin und jeder Sänger auftreten durfte, der sich meldete. Ein älteres, gemütliches Kellerlokal mit Restaurant, das Publikum war gemischt, Junge und Alte, und die „Gastgeberin“ Kim Richardson sorgte mit einigen Songs zu Beginn und ihrem lauten Lachen für Stimmung. Ein junges schwarzes Mädchen huschte herein, setzte sich auf den letzten freien Platz neben mich. Sie trug Haare und Kleidung wie die afroamerikanischen Jugendlichen auf Fotos aus den 1940er Jahren. Ich dachte, das sei wohl eine Mode, aber als wir ins Gespräch kamen, war ich mir nicht mehr sicher, denn sie wirkte so brav mit ihrer großen Brille. Sie sagte, sie wolle auch singen, und erzählte, sie selbst sei in Montréal aufgewachsen, ihre Eltern seien in den 1980er Jahren aus Afrika eingewandert. Sie war das erste Mal in diesem Club und wirkte etwas nervös, meldete sich aber selbstbewusst bei der Moderatorin an. Auf der Bühne war sie umwerfend gut, mit einer etwas rauen Stimme, von der sie bei der Improvisation alle Farben spielen ließ, wie ein Star – sie wird bestimmt einer, ihr Name ist Vie.

 

Text #7 von Beate Thill

Der gute Eindruck vom Anfang, den uns die Verleger mit ihrem hohen Anspruch, nicht nur für ihre Bücher sondern auch für deren Verbreitung gemacht hatten, ihr soziales Engagement mit pfiffigen kulturpolitischen Ideen, dieser Eindruck hat sich in der laufenden Woche noch vertieft. Offenkundig spielt Québec und seine übersprudelnde Kultur eine wichtige Rolle für das gesamte Kanada. Seine Autoren beschreiben die Realität des Landes, das zu einem großen Teil immer noch mit der Erschließung seines riesigen Territoriums befasst ist, auf eigene Weise. Etwa den Alltag der Holzarbeiter in den abgelegenen Dörfern im hohen Norden oder der einfachen Leute in den Industriezentren. Es gibt auch eine Literatur von Ureinwohnern, die zunehmend Gehör findet und sich mit dem Leben in den Reservaten befasst, das von Erniedrigung, Perspektivlosigkeit und Alkoholismus geprägt ist. Diese kanadische Realität wird in französischer Sprache und einem sehr eigenen Stil dargestellt, der auch auf die englischsprachigen Schriftsteller von Québec wirkt, und damit auf die englischsprachigen Leser und die Kultur im gesamten Land. Der Austausch mit den eigenen Minderheiten und die Wechselwirkung mit ihnen sichert Kanada eine kulturelle Eigenständigkeit, die sonst vom großen Nachbarn USA stark bedroht wäre.
Der Besuch hat uns dies in schöner Weise vor Augen geführt und wir werden uns dafür einsetzen, dass die Provinz, ihre Literatur und ihre hochinteressante Kultur auf der Frankfurter Buchmesse 2020 sehr präsent sein wird.