Montréal, die ersten Tage von Beate Thill
Ein Tor zur Neuen Welt. Die Stadt liegt auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Strom, die sie ganz bedeckt, durchzogen von Kilometer langen Verkehrsachsen, mit einem alten Zentrum im Süden, am Wasser. Gerade ist sie 375 Jahre alt geworden.
Alles ist groß, die Gebäude um das Hotel, man hört immer wieder das Nebelhorn, wenn ein Schiff in den nahen Hafen einläuft, gleich gegenüber das ehrwürdige Bürohaus von „Grand Trunk“ mit seinen hohen Räumen, vom Hotelfenster kann man zusehen, wie die Menschen arbeiten, klein im Verhältnis, ebenso wie die Fußgänger auf der Straße, oder unsere Gruppe zwischen den Türmen von Downtown, an der nächsten U-Bahnstation. Der „Grand Trunk“ ist die Eisenbahngesellschaft, die 1860 die damals größte Eisenbahnbrücke der Welt über den Sankt-Lorenz-Strom baute, ein wichtiger Schritt für die Erschließung Kanadas mit der Eisenbahn bis Toronto und für die Bedeutung Montréals. Zunächst drängt sich also der Eindruck nüchterner Produktivität auf.
Während verschiedener Besichtigungen in Verlagshäusern lernen wir auch andere Viertel von Montréal kennen, die eher an europäische Städte, wie etwa London, erinnern.
Wir sind eine Gruppe von Verlegern und ein paar Übersetzern aus verschiedenen Ländern und finden schnell zusammen, sind gut gelaunt, weil wir sehr schön untergebracht sind und alles, was uns geboten wird, so interessant und einladend ist. So gibt uns Simon de Jocas, der Direktor vom Dachverband Québec Édition, ein lebendiges und humorvolles Einführungsreferat, wo wir einiges über die Struktur im hiesigen Verlagswesen erfahren.
Québec musste sich schon immer gegen die Übermacht des anglophonen Kanada behaupten, es hat eine Gesetzgebung, die Verlagen aus Québec das Monopol für die Literaturproduktion der Provinz gewährt und diese stark subventioniert. Seit einem kulturellen Aufbruch, der Stillen Revolution der 1960er Jahre, hat Québec interessante Autoren in Dichtung, Prosa und Theater, die eine eigene Sprache für ihre Welterfahrung etabliert haben, mit der das Französische frisch, spritzig und wie neu wird, und diese Literatur erlebt gerade wieder eine Blüte. Wir lernen Verleger mit originellen Ideen kennen, die sich auch gesellschaftlich engagieren. Einer von ihnen hat beispielsweise zum Jubiläum der 375 Jahre einen historischen Stadtrundgang mit der populären Comicfigur Paul angelegt.
Alle zeigen uns mit berechtigtem Stolz ihre Bücher, die Aufmachung und das Bildmaterial hat durchweg künstlerischen Anspruch, ist oft spannend und unkonventionell. Sie erklären uns ihre Strategie, wie sie auf die Leser, die Jugend, auf ein breites Publikum zugehen, ohne unbedingt Abstriche in der Qualität zu machen. Wir sind davon beeindruckt und finden manches auch bei uns in Deutschland nachahmenswert, zur Leseförderung bei Kindern und Jugendlichen, oder um auch den Erwachsenen den Zugang zu Bibliotheken und zur Kultur attraktiv zu machen und zu erleichtern. Unsere Gesprächspartner weisen darauf hin, dass sie hier in Nordamerika sind, wo die erste Priorität die Produktion sei, und die Kultur noch um ihre Bedeutung kämpfen müsse, sie meinen, in Europa sei das anders – doch wir finden, auch wir brauchen gute Ideen, damit die Kultur einer breiteren Bevölkerung zugänglich wird.
Text #2 von Beate Thill
Montréal ist bekannt und besonders anziehend als Kulturmetropole, neben Theater und Literatur gibt es den Jazz und eine lebendige Kunstszene. Deren Einfluss war schon an der schönen, originellen Gestaltung der Bücher zu sehen. Ich will mehr davon entdecken und gehe abends aus. Die rue Saint-Denis, die von Dany Laferrière in den 1980er Jahren als ein Ort der Penner und Arbeitslosen beschrieben wird, hat sich gewandelt, besitzt aber immer noch das Rotlichtflair. Hier in der Gegend auf dem Plateau spielt sich das Nachtleben ab. Die Drogenszene vom Carré Saint-Louis hat sich jedoch inzwischen verzogen und die umgebenden Wohnhäuser standen gediegen renoviert in Wind und Regen. Gleich hier beginnt ein Ausgehviertel mit vielen Kneipen und Restaurants.
Le Dépanneur von Beate Thill
Er ist ein typisches Québecer Phänomen, ein Schild mit dieser Aufschrift ist mir schon in verschiedenen Vierteln der Stadt aufgefallen, ich übersetze ‚Aushelfer‘ oder ‚Pannenladen‘ (wie Pannenfahrzeug) für alles, was die Nachbarin nicht hat. Es handelt sich aber nicht immer um einen kleinen Supermarkt. Gegenüber dem Hotel hängt ein Karton mit der Aufschrift „Dépanneur“ schief in einem Schaufenster, ich suche die Tür, sie ist um die Ecke, und finde einen einfachen chinesischen Laden. Ein Kühlregal mittendrin enthält Getränke, einige Holzregale sind nur spärlich gefüllt mit Zahnbürsten, Konserven, Nudelsuppen, Süßigkeiten und ein paar Äpfeln. Zum nächsten Supermarkt müsste man etwa 20 Minuten laufen, sagt der Besitzer und überblickt etwas verlegen den ziemlich großen Raum, der wohl einmal eine Bar war.
Street Art von Beate Thill
Der Stadtführer zeigt uns eine Hauswand, die ganz mit Schrift bedeckt ist, blau auf weißem Grund. Es handelt sich um einen Brief an den Bürgermeister Jean Drapeau aus dem Jahr 1975 in einer Sprache, die man besser versteht, wenn man laut liest: es ist das Französisch der einfachen Leute von Québec, genannt ‚joual‘. Ganz in der Nähe auf dem Plateau ist auch das Haus, in dem Michel Tremblay, geboren 1942 und wohl der berühmteste Schriftsteller von Montréal, lange gewohnt hat. Er hat in den 1960er Jahren diese Sprache in seine Theaterstücke gebracht und sie damit literaturfähig gemacht. Es war die Zeit der Stillen Revolution, des großen Umbruchs in der Kultur von Québec, die vor allem eine Befreiung von der Bevormundung durch die katholischen Kirche bedeutete. Die Leute strömten ins Theater und amüsierten sich, während gelegentliche französische Zuschauer nur darüber lachen konnten, dass die anderen sich ausschütteten, obwohl man nichts verstand. ‚Joual‘ steht für ‚cheval‘, also ‚Pferd‘: die Aussprache ist weich, gedehnt und voller Diphthonge, die das Französische nicht (mehr) kennt: „du redest wie wenn du wieherst“. Nicht nur die Aussprache, auch die Wörter haben eine andere Bedeutung, ‚é – coeurant‘ heißt in ‚Joual‘ ‚toll, begeisternd‘ – und in der franko-französischen Sprache ‚eklig‘.
Montréal ist berühmt für seine Wandgemälde. Es sind keine Graffitis, sagt der Führer, sondern Malerei. Zunächst waren sie in der Bevölkerung nicht so beliebt, inzwischen ist man stolz auf diese Besonderheit, weil viele Touristen nur ihretwegen kommen. In der Gegend gibt es, als Fortsetzung der Proklamationen an Hauswänden, ein Projekt von der Stadt mit dieser „Dichtung am Bau“ (mot à mur). Auch neben der Grande Bibliothèque du Québec sind auf einer Mauer Sprüche berühmter Autoren als Rebusrätsel angebracht. Der schöne fünfstöckige Bau mit viel Holz und Glas war zunächst umstritten, wie man das von Kulturprojekten kennt, „zu teuer, keiner würde kommen“, und nun ist die Bibliothek ein Riesenerfolg. Wir können uns davon überzeugen, es ist voll, am frühen Nachmittag sind vor allem viele Kinder da.