Ein großes Thema während seiner Geiselnahme war die Zeit. Christophe André berichtete, dass die ersten Stunden anders verlaufen, als die nachfolgenden. Zuerst hatte er die Hoffnung, befreit zu werden. Mit der Zeit verschwand diese Hoffnung. Allerdings durfte er sie nicht verlieren. Er musste sich überzeugen, dass die Rettung länger dauert. Es passiere leicht, dass man das Gefühl für Zeit verliert bzw. dass man sie auf eine andere Art wahrnimmt. Weil jegliche Bezugspunkte fehlen, muss man selbst das Datum im Kopf haben und die Tage bewusst zählen, erklärte er. An einem Tag in Gefangenschaft passiert nicht viel. Man läuft im Zimmer auf und ab, bekommt etwas zu essen, kann aber nicht kommunizieren. Was bleibt, sind die Gedanken. Erinnerungen an Gelesenes, Gesehenes, Erlebtes können die Tage etwas verkürzen. Wie konnte Delisle das Empfinden der Zeit in seinem Comic vermitteln? Er hätte „2 Wochen später“ schreiben können und hätte sich einige der 430 Seiten sparen können, aber es war ihm wichtig, dass der Leser die Zeit spürt. So reihen sich ähnliche Bilder über die Seiten aneinander. Der Großteil der Geschichte spielt sich ja in dem einen Zimmer ab. Es wird Nacht. Es wird Tag. Jede bevorstehende Nacht ruft Angst hervor, jeder Morgen bringt die Erleichterung, dass nichts Schlimmes geschehen ist, erzählte André. Zu den größeren Veränderungen beim Zeichnen gehörte, dass Christophe André nach ca. 300 Seiten ein T-Shirt bekommen hat und Delisle ihn nicht mehr mit freiem Oberkörper zeichnen musste. Delisle hat für dieses Buchprojekt seinen Stil leicht verändert. Seine Zeichnungen sind realistischer und enthalten mehr Details. Und ,it seinem Humor hat er sich zurückgehalten, weil die Geschichte es so gefordert hat. Er hat mit wenigen Effekten gearbeitet und war minimalistisch geblieben, um das Erlebte rüberzubringen, ohne daraus einen Hollywoodfilm zu machen.
Nach den Reportagecomics Aufzeichnungen aus Jerusalem, Aufzeichnungen aus Birma und Pjöngjang, alle bei Reprodukt erschienen, liegt nun auch Geisel in der deutschen Ausgabe vor. Heike Drescher hat den Text aus dem Französischen übersetzt. Das Buch war zuerst beim Verlag Dargaud in Frankreich mit dem Titel S‘enfuir. Récit d‘un otage erschienen. Seitdem wurde es ins Spanische, Deutsche und Niederländische übersetzt. Weitere Ausgaben, z.B. auf Englisch, folgen.
Christophe André kehrte nach seiner Flucht zu seiner Familie nach Frankreich zurück. Nach einer Auszeit meldete er sich wieder bei Ärzte ohne Grenzen und ging nach Laos. Das, was er durchlebt hat, dient ihm heute, schwierige Situationen zu meistern. Die negativen Dinge, so sagte er, vergesse man mit der Zeit und so erzählte er vor vielen Jahren Guy Delisle von seiner Geiselnahme. Und so beginnt das Buch, mit einer Szene, die André und Delisle an einem Tisch sitzend zeigt. André erzählt und Delisle zeichnet es mit einem Aufnahmegerät auf.