Guy Delisle war mit seinem neuen Buch Geisel in Berlin

4. April 2017 | Reportage

Am 23. März 2017 war Guy Delisle im ExRotaprint in Berlin. Kurz zuvor war sein neuestes Buch in Deutschland erschienen. Gemeinsam mit Christophe André, dessen Erlebnis Grundlage dafür war, gewährte er am Donnerstagabend in der Glashalle des ehemaligen Produktionsgeländes des Druckmaschinenherstellers ExRotaprint Einblicke in den Entstehungsprozess des umfangreichen Buchs. Die Veranstaltung fand zu Beginn auf Deutsch statt. Nach der Einleitung von Moderatorin Elise Landscheck und der Lesung der ersten Seiten wechselte sie für das Gespräch mit dem Illustrator ins Englische. Guy Delisle erzählte, wie er 2001 Christophe André getroffen hat. So wie Delisles Frau arbeitete Christophe André für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. 1997 war er im Nordkaukasus, wo er von tschetschenischen Separatisten entführt wurde. 111 Tage war er in einem Zimmer eingesperrt ohne zu wissen warum und ob er jemals wieder raus kommt. Als Guy Delisle ihn Jahre später getroffen hat, erzählte André in vielen Details von seiner Erfahrung. Das hat den Illustrator beeindruckt. Andrés Geschichte war bei ihm hängen geblieben. Schließlich fing er irgendwann an, Andrés Geschichte in Zeichnungen nachzuerzählen. Im Austausch mit dem Mitarbeiter der Hilfsorganisation hat sich das Buch weiterentwickelt. Dabei gab es große Herausforderungen. Wie stellt man die Gefangenschaft dar? André war in einem spärlich eingerichteten Zimmer gefangen. Er schlief auf einer Matratze, die auf dem Boden lag. Daneben befand sich ein Heizkörper, an dem er die meiste Zeit mit Handschellen gefesselt war. Damit waren seine Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt. Welche Details nimmt man auf, welche lässt man weg, weil sie für die Geschichte weniger relevant sind? Darüber sprachen sie, Delisle als erfahrener Zeichner und André als derjenige, der als Geisel genommen wurde. Darüber hinaus recherchierte Delisle Details über landestypische Elemente aus dem Internet und versuchte durch Nachahmung der Szenen ein Gespür für das Darstellbare zu bekommen.

Ein großes Thema während seiner Geiselnahme war die Zeit. Christophe André berichtete, dass die ersten Stunden anders verlaufen, als die nachfolgenden. Zuerst hatte er die Hoffnung, befreit zu werden. Mit der Zeit verschwand diese Hoffnung. Allerdings durfte er sie nicht verlieren. Er musste sich überzeugen, dass die Rettung länger dauert. Es passiere leicht, dass man das Gefühl für Zeit verliert bzw. dass man sie auf eine andere Art wahrnimmt. Weil jegliche Bezugspunkte fehlen, muss man selbst das Datum im Kopf haben und die Tage bewusst zählen, erklärte er. An einem Tag in Gefangenschaft passiert nicht viel. Man läuft im Zimmer auf und ab, bekommt etwas zu essen, kann aber nicht kommunizieren. Was bleibt, sind die Gedanken. Erinnerungen an Gelesenes, Gesehenes, Erlebtes können die Tage etwas verkürzen. Wie konnte Delisle das Empfinden der Zeit in seinem Comic vermitteln? Er hätte „2 Wochen später“ schreiben können und hätte sich einige der 430 Seiten sparen können, aber es war ihm wichtig, dass der Leser die Zeit spürt. So reihen sich ähnliche Bilder über die Seiten aneinander. Der Großteil der Geschichte spielt sich ja in dem einen Zimmer ab. Es wird Nacht. Es wird Tag. Jede bevorstehende Nacht ruft Angst hervor, jeder Morgen bringt die Erleichterung, dass nichts Schlimmes geschehen ist, erzählte André. Zu den größeren Veränderungen beim Zeichnen gehörte, dass Christophe André nach ca. 300 Seiten ein T-Shirt bekommen hat und Delisle ihn nicht mehr mit freiem Oberkörper zeichnen musste. Delisle hat für dieses Buchprojekt seinen Stil leicht verändert. Seine Zeichnungen sind realistischer und enthalten mehr Details. Und ,it seinem Humor hat er sich zurückgehalten, weil die Geschichte es so gefordert hat. Er hat mit wenigen Effekten gearbeitet und war minimalistisch geblieben, um das Erlebte rüberzubringen, ohne daraus einen Hollywoodfilm zu machen.

Nach den Reportagecomics Aufzeichnungen aus Jerusalem, Aufzeichnungen aus Birma und Pjöngjang, alle bei Reprodukt erschienen, liegt nun auch Geisel in der deutschen Ausgabe vor. Heike Drescher hat den Text aus dem Französischen übersetzt. Das Buch war zuerst beim Verlag Dargaud in Frankreich mit dem Titel S‘enfuir. Récit d‘un otage erschienen. Seitdem wurde es ins Spanische, Deutsche und Niederländische übersetzt. Weitere Ausgaben, z.B. auf Englisch, folgen.

Christophe André kehrte nach seiner Flucht zu seiner Familie nach Frankreich zurück. Nach einer Auszeit meldete er sich wieder bei Ärzte ohne Grenzen und ging nach Laos. Das, was er durchlebt hat, dient ihm heute, schwierige Situationen zu meistern. Die negativen Dinge, so sagte er, vergesse man mit der Zeit und so erzählte er vor vielen Jahren Guy Delisle von seiner Geiselnahme. Und so beginnt das Buch, mit einer Szene, die André und Delisle an einem Tisch sitzend zeigt. André erzählt und Delisle zeichnet es mit einem Aufnahmegerät auf.