In Vi entwirft die Autorin die Geschichte einer Frau, die erst lernen musste, sich schön zu fühlen. Sie hatte gehört, wie ihr Großvater sich in die schmalen Finger seiner zukünftigen Frau verliebt hat, hatte mitbekommen, wie Hà in ihrer Jugend die Blicke auf sich gezogen hat, dann während der Ehe mit einem General Gewalt erfahren hat und später in der Liebe von Louis wieder aufgeblüht war. Sie hatte gesehen, wie Hoa ihren Bruder Long umsorgt hat, so wie ihre Mutter damals ihren Vater. Neben der Liebe, die viel Raum in Thúys Roman einnimmt, sind es tragische Geschichten, die leise eingefügt werden, z.B. die von der gefährlichen Überfahrt mit dem Fischerboot oder die vom Leben im Flüchtlingslager. Nach der Ankunft in Québec (Stadt) sind es Gefühle wie Verlorenheit und Angst vor dem Alleinsein, mit denen sich die Hauptfigur konfrontiert sieht.
Auch der Blick in die Vergangenheit fügt sich hier und da ein. Wie schon in Ru (Der Klang der Fremde) und Mãn (Der Geschmack der Sehnsucht) spielt auch in diesem Roman die Sprache eine große Rolle. Bảo Vi, deren Name auf Vietnamesisch das „unendlich Kleine“ bezeichnet, lernte schon in Vietnam Französisch, im Flüchtlingslager Englisch und später Chinesisch. Hinter jeder Sprache steckt ein Ort und jeder dieser Orte hat seine Bedeutung. Oft ist diese im Namen selbst zu finden. Wie sie geschrieben werden und welche Bedeutung sie haben, wird auf einigen Seiten des Romans hervorgehoben.

Roman
Libre Expression, 2016
144 Seiten
24,95 $
Ein Zitat:
« J’avais huit ans quand la maison a été plongée dans le silence.
Sous le ventilateur d’appoint apposé au mur blanc ivoire de la salle à manger, un grand carton rigide rouge vif portait un bloc de trois cent soixante-cinq feuilles. Chaque feuille indiquait l’année, le mois, le jour de la semaine et deux dates: une selon le calendrier solaire et une autre selon le calendrier lunaire. Dès que j’ai été capable de grimper sur une chaise, on m’a réservé le plaisir d’enlever une page à mon réveil. J’étais la gardienne du temps. Ce privilège m’a été retiré quand mes frères aînés Long et Lộc ont eu dix-sept ans. À partir de ce jour d’anniversaire, que nous n’avons pas célébré, ma mère pleurait chaque matin devant ce calendrier. J’avais l’impression qu’elle se déchirait en même temps qu’elle arrachait la feuille du jour. Le tic-tac de l’horloge qui d’habitude nous endormait au moment de la sieste de l’après-midi sonnait soudainement comme celui d’une bombe à retardement. » – Kim Thúy: Vi, Libre Expression, 2016, S. 9