Mukbang von Fanie Demeule

5. April 2024 | quélesen

Ein Text von Alissa:

Kim wächst in den 1990ern auf. Von klein auf kann die Realität ihren Wünschen nicht gerecht werden. Es herrscht ein gewisses Misstrauen zwischen ihr und anderen Kindern und Erwachsenen, das niemals verschwindet. Da entdeckt Kim die trügerische Geborgenheit der Bildschirme und flüchtet sich fortan in Computerspiele. Als junge Teenagerin vertilgt sie die ersten kostenlosen Musikvideos auf Youtube, dann versinkt sie in der Welt der Instagram-Models. Kim gerät von einer Besessenheit in die nächste, ihr einziges Ziel sind Ruhm und Bestätigung. Ihr Alltag und ihre Persönlichkeit wechseln im Rhythmus der Trends: von der meditierenden Gesundheitspredigerin verwandelt sich Kim in die Darstellerin sogenannter Mukbangs, bei denen sie vor laufender Kamera riesige Mengen Essen verschlingt.

Jeder Youtube-Kommentar, der ihre Authentizität anzweifelt und der Internet-Kim ihre Ausgeglichenheit nicht abkauft, treibt die junge Frau tiefer in die Virtualität. Auch die Sorgen ihrer Eltern erreichen sie nicht: Immerhin verdient sie ihr eigenes Geld, sie ist berühmt. Doch ein öffentlicher Konkurrenzkampf mit Mukbang-Star Misha Faïtas mündet in einem Exzess, der Kims Karriere ein jähes Ende bereitet und ihr Umfeld nachhaltig beeinflusst.

In Mukbang befindet sich der Körper im Kampf. Er ist unablässig Bewertung, Vernachlässigung oder Besessenheit ausgesetzt. Und zwischen geliebten Followern und technisch generierten besten Freunden verschwimmt sehr schnell die Grenze zwischen Virtualität und Wirklichkeit.

Fanie Demeules Roman ist ebenso packend wie verstörend. Gleich seinem Inhalt hält sich auch das Buch möglichst nah an technologischen Moden: Zahlreiche QR-Codes im Text unterfüttern die Handlung mit zusätzlichen Informationen, Erläuterungen oder Kommentaren. So sind die Leserinnen und Leser selbst vor die Wahl gestellt, wie viel Bildschirm sie mit in ihre Lektüre einladen.

Fanie Demeule lebt in Longueuil. Sie hat einen Doktor in Literaturwissenschaft und arbeitet als Dozentin an der Université du Québec in Montréal und als Herausgeberin. Viele ihrer Texte setzen sich mit Schönheitsidealen, Essstörungen und dem Bezug zum eigenen Körper auseinander. Neben Mukbang hat sie mehrere Kurzgeschichten, eine illustrierte Arbeit und vier Romane veröffentlicht, davon zuletzt Highlands (Québec Amérique, 2021) und Je suis celle qui veut sauver sa peau (Hamac, 2022). Besonders positiv von der Kritik empfangen und für mehrere Preise nominiert waren Déterrer les os (Hamac, 2016) und Roux Clair Naturel (Hamac, 2016).

Fanie Demeule: Mukbang
Tête première, 2021
232 Seiten
ISBN 978-2-925035-45-9
21,95 $
Mukbang war 2021 Finalist des Prix littéraire des collégiens und wird bei Babel Films als Serienformat adaptiert. 2022 erschien der Roman in der englischen Übersetzung von Anita Anand bei Linda Leith Publishing.

Ein Zitat:
« Endormie ou éveillée, j’ai toujours rêvé de pouvoir voler. Enfant, j’étais convaincue qu’à force de battre des bras en sautant, je finirais par décoller. Après une flexion et une poussée de jambes, sentir le sol se dérober sous mes pieds, le vent souffler à mesure que je m’élève. Me délester de mon poids. Au sol, les gens observeraient, stupéfaits, la fille qui plane dans les nuages.
Je me pratiquais quotidiennement. Je courais à perdre haleine, et lorsque j’avais atteint ma vitesse maximale, je m’élançais dans l’espoir de rejoindre le ciel. » – Fanie Demeule: Mukbang, Tête première, 2012, S. 35