Barbe von Julie Demers

9. Dezember 2015 | quélesen

Der erste Roman von Julie Demers beeindruckt durch die Art der Darstellung. Im Zentrum von Barbe steht ein kleines Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist. Sie hat sich in den Wald unweit des Heimatdorfes in einem Jägerhochsitz verschanzt. Es ist Winter und sie ist den Naturgewalten wie Sturm und Kälte ausgesetzt.

Sie war zur Entdeckung der Welt losgezogen, die ihr ihre Mutter vorenthalten hatte. Sie sperrte sie ein und hielt so vor den Blicken der anderen zurück. Denn sie war anders, kein gewöhnliches Mädchen. Auch der Vater huldigte sie keines Blicks, kehrte von seiner Arbeit im Wald nur heim, um Intimität mit der Mutter zu teilen, so wie damals, als sie gezeugt wurde. Als ihre Mutter schwanger wurde, hat ihre Familie sich von ihr abgewandt.

Das Mädchen erinnert sich an die Zeit, als sie im Bauch der Mutter war, an die Schmerzen, die ihre Mutter hatte und an deren Wunsch, das Kind aus sich heraus zu haben. Sie bewegte sich im Inneren, was die Mutter durch Schläge auf den Bauch zu unterbinden versuchte. Sie war hilflos im Bauch und konnte die Mutter nicht unterstützen. Dennoch versuchte sie es, indem sie sie zum Lachen bringen wollte und sie so von den dunklen Gedanken wegzuführen. Dann wurde sie geboren und war kein gewöhnliches Mädchen. Sie lernte, ein Clown zu sein, der nur mit sich selbst auskam.

Nach ihrer Flucht geht es ihr ähnlich. Sie hält einen Hasen für ihren Freund, verliebt sich dann in einen Hahn, den sie in ihrem Hemd dicht bei sich trägt, der ihr allerdings in die Brust pickt. In der anderen Welt, fernab der Menschen aus ihrem Dorf, trifft sie auf allerhand Gefahren und durchlebt ihre persönliche Apokalypse. Daraufhin wäre ein Neuanfang möglich. Doch dann trifft sie auf zwei Jäger, die von dem Mädchen gehört haben, dem sie allerdings ein Leben inmitten des Winters im Wald nicht zugetraut hätten. Ihnen gelingt es, das Mädchen zu fangen. In einem Käfig wollen sie sie in das Dorf zurückführen. Doch ob sie zurückkehrt oder nicht und mit welcher Erkenntnis, kann nur sie allein entscheiden.

Keine Namen, keine Großbuchstaben und nur eine schmale Palette an Gefühlen sind in Barbe auszumachen. Nur ein Ort namens Rivière-à-Pierre in der Gaspésie und der Winter 1933 dienen zur Verortung. Das Schreiben der Entflohenen dient dazu, eine ganz eigene Spur zu hinterlassen, doch es sind nur lose Blätter, von denen sich einige vom stürmischen Wind mitgerissen unter die Bäume mischen und dadurch zu ihrem Ursprung zurückkehren.

Julie Demers: Barbe
Roman
Héliotrope, 2015
138 Seiten
20,95 $
Julie Demers ist 2016 mit ihrem Roman Barbe für den Prix littéraire Archambault nominiert.

Ein Zitat:
« je m’exerçais à endurer mon reflet. j’étais sur le point d’accepter le fait que de rester avec moi-même était d’un ennui mortel et que de me regader dans le miroir ne m’apporterait aucun satisfaction. ‹contente-toi de ta face›, me disait mère. je rebuterais tout le monde. j’apeurerais les mâles, les vieux crottés comme les plus moches gorets. on m’enfermait dans ma chambre et me bringuebalait à qui mieux mieux. seules les belles choses sont précieuses : ceux qui essaient de se contenter de leur face sont bringuebalables sans retenue.
ma face ne m’appartenait pas. elle occupait tout l’espace de mon visage. elle se baladait toujours avec moi. exister dans mon cas impliquait une face, et faire face au monde impliquait d’exhiber ma face. c’est pourquoi, par mesure de précaution, mère refermait tout : les portes, les fenêtres, les rideaux, même ses yeux à elle lorsqu’elle fallait à me dévisager.
j’étais la seule à pouvoir constater le passage du temps sur les faces. entre son départ et son retour, la barbe de père poussait. entre son départ et son retour, je vieillissais. et pourtant il ne me voyait pas : tout juste rentré du bois, père ne prenait pas la peine de me regarder. il ne revenait que pour mère. il ne revenait que pour lui toucher la différence. » – Julie Demers: Barbe, Héliotrope, 2015, S. 14-15