Interview mit Audrée Wilhelmy

30. Dezember 2024 | nachgefragt

Im Herbst 2018 verbringt Audrée Wilhelmy ein paar Tage in Berlin. Ich organisiere eine Book and you-Lesung mit ihr, nachdem wir uns ein Jahr zuvor auf der Frankfurter Buchmesse zum ersten Mal begegnet sind, und treffe sie bei der Gelegenheit vorab zu einem Interview. Ich möchte unser Gespräch von der Buchmesse vertiefen und mehr über sie als Schriftstellerin und ihren Roman Le corps des bêtes erfahren. Treffpunkt ist ein Café, das Selig, das mit seinen vielen Fenstern und wunderschönen Blumensträußen für eine tolle Atmosphäre sorgt, und in dem wir uns gut unterhalten können.

Was hat dich zur Literatur und zum Schreiben gebracht?

Audrée: Das ist eine gute Frage. Ich erinnere mich an keinen bestimmten Moment, der mich zur Literatur gebracht hat. Ich habe als erstes mit dem Malen angefangen. Schon als ganz kleines Kind, etwa mit zwei Jahren, ging das los, und ich malte quasi ständig. Während ich malte, habe ich mir Geschichten ausgedacht, die ich dann irgendwann auch aufschrieb. Ich mochte meine Geschichten sehr und erinnere mich gut an die, die ich mir mit vier oder fünf ausgedacht habe, sogar besser als an Ereignisse aus meinem Leben aus derselben Zeit. Ich habe viel Zeit in meiner Fantasiewelt verbracht. Es gibt keinen speziellen Grund dafür, dass ich mich der Literatur zugewandt habe. Auch wenn ich als Kind viel gelesen habe, habe ich nie daran gedacht, selbst einmal Bücher zu schreiben. Das hat sich einfach ergeben.
Im Cégep entschied ich mich für Kunst und Literatur, habe aber hauptsächlich gezeichnet. Ich wollte lange Zeichnerin bei Walt Disney werden und animierte Filme machen. Kurz vor dem Wechsel an die Universität erkannte ich, dass ich mich sehr über die Kommentare zu meinen Zeichnungen aufregte, wohingegen mich die Kritik an meinen Texten weniger störte. Daher dachte ich, dass die nächsten drei Jahre wohl weniger frustrierend sein würden, wenn ich mich fürs Schreiben und somit die Literatur entscheide. Danach entwickelten sich die Dinge nach und nach. Ich habe viel geschrieben. Auf das Grundstudium, während dem ich mich akribisch einem Romanprojekt zugewandt habe, folgte der Master, für den ich mir ein ganz neues Projekt überlegt habe. Ich habe zwei Jahre lang daran gearbeitet, ohne irgendwelche Hintergedanken oder Hoffnungen auf eine Veröffentlichung. Das war Oss, und Oss wurde dann schließlich veröffentlicht. Mit meiner Ausbildung war ich aber noch nicht fertig, also entschied ich mich für das Doktorat. Ich veröffentlichte weitere Bücher und das ganze nahm an Fahrt auf. Es gab aber nicht diesen einen Moment, der ausschlaggebend für mich war, mich der Literatur zuzuwenden.

Wurde in deiner Familie viel vorgelesen und haben die Geschichten deine Fantasie genährt?

Audrée: Oh ja, meine Eltern haben mir häufig vorgelesen und sind mit mir auch in Museen gegangen. Sie haben mir viele traditionelle contes aus Québec und der indigenen Kultur erzählt. Sie waren in meiner Kindheit sehr präsent. Meine Eltern und auch Großeltern haben in verschiedenen Momenten auf unterschiedliche Weise meine Imagination geprägt. Ich erinnere mich zum Beispiel an meine Oma, wie sie mir Namen von Vögeln, Bäumen, Blumen und Tieren beibringt. Ich war damals noch sehr klein, erst zwei Jahre alt, erinnere mich aber noch gut daran, sehe sie quasi vor mir, wie sie auf die Dinge zeigt und sie benennt.

Die contes haben in Québec eine lange Tradition.

Audrée: Ja, zum Beispiel La chasse galérie, La corriveau, Rose Latulipe … Es gibt viele dieser traditionellen contes, die stark vom Christentum geprägt sind. Ich habe eine Nacherzählung von Rose Latulipe geschrieben. Rose tanzt die ganze Nacht mit einem gut aussehenden Fremden, der auf einem schwarzen Pferd angeritten kam. Am Ende kann sie nicht mehr aufhören zu tanzen, weil es der Teufel war, der sie in die Hölle mitgenommen hat. In den contes findet sich immer ein religiöser Aspekt, und in der Regel sind sie auch ziemlich lustig. La chasse galérie erzählt von Männern in einem Camp, die den Winter über Holz fällen. Normalerweise verlassen die Holzfäller es vor dem Schnee im November und kehren nach dem Schnee im April zurück. Die Männer in der Erzählung gehen zu Fuß in den Wald, es gibt keine Straße. Sie errichten das Camp, fangen an zu roden und dringen langsam immer weiter vor. Die Arbeit ist anstrengend und einsam. Sie vermissen ihre Liebsten und als Weihnachten bevorsteht … es gibt einen Zauber, mit dem sich der Teufel rufen lässt. Er erschafft ein magisches Ruderboot, mit dem sie über den Wald fliegen können. Sie dürfen darin jedoch weder fluchen noch eine Kirchenglocke damit berühren. Sie müssen noch weitere Regeln beachten. Auf diese Weise können die Männer Weihnachten mit ihren Liebsten feiern. Auch wenn ihnen der Teufel droht. Es gibt verschiedene Versionen von der Chasse galérie. Manchmal werden die Männer bestraft, manchmal entkommen sie dem Teufel um Haaresbreite. Und wie es mit Legenden so ist, berichten die Menschen von Sichtungen der Chasse galérie. Die religiöse Botschaft hier, aber auch in vielen anderen contes lautet: Rufe niemals den Teufel herbei, denn es könnte schlecht für dich enden.

Würdest du Oss als conte bezeichnen?

Audrée: Oss hat schon etwas davon, ich würde aber eher Feengeschichte sagen. Meine Mutter hat uns häufig russische Märchen wie Baba Jaga und Vassilissa la belle erzählt. Ich hatte diese Geschichten im Kopf, als ich Oss geschrieben habe.
Die Geschichte ist zwar in Québec angesiedelt, könnte sich aber überall ereignen. Das war mir wichtig, als ich Oss geschrieben habe. Das conte-hafte hat mit der Moral zu tun. Ich wollte eine Geschichte erschaffen, an deren Ende keine Moral steht beziehungsweise die Moral in den Händen der Lesenden liegt. Ich wollte sie ihnen nicht einfach servieren. Und das gilt nicht nur für Oss, sondern eigentlich auch für alles, was darauf folgte.

Wie zum Beispiel Les sangs.

Audrée: Genau. In Les sangs war es mir zudem wichtig, dass der Text auf verschiedene Arten gelesen werden kann und dass ihn sich jede Person, die ihn liest, zu eignen machen kann. Denn sobald ein Text aus einem raus ist, gehört er einem nicht mehr. Ich hatte Bedenken, dass mich, wenn ich ihm zu viel von mir einschreibe, oder vorwegschicke: „ich denke, dass der Text auf diese Art und Weise zu lesen ist“, das Feedback der Leserschaft verletzten würde. Ich hätte mich über ein Nich-Verstehen geärgert. Deshalb wollte ich eine literarische Welt entwerfen, die allen offen steht und die jede Person zu ihrer machen kann.
Les sangs wurde mehrfach am Theater inszeniert. Eine weitere Inszenierung ist in Arbeit. In der ersten Version wurde eine der Figuren zum Mann gemacht. Es waren insgesamt sieben Schauspielerinnen und Schauspieler. In der zweiten Version waren es 24 Frauen und im Fokus stand das Herz. In der dritten Version gab es nur zwei Figuren. Der Text ist also ein Vorschlag, aus dem unterschiedliche Menschen verschiedene Erzählstränge ausgewählt haben, die alle enthalten sind. Das ist überaus interessant. In der Version mit den 24 Frauen, die einen Chor bilden, durchlebten alle Frauen in etwa das Gleiche, während ich mich im Buch bemüht habe, jede Frauenfigur individuell zu gestalten. Es ist interessant, wie einzelne Menschen sich den Inhalt aneignen. Die Version mit den sieben Schauspielerinnen und Schauspieler unterstrich den Wahnsinn der Frauen. Es hatte etwas Burleskes, enthielt viel Tanz und war insgesamt sehr körperlich. Die Frauen wurden hysterisch dargestellt. Etwas, das ich im Buch nicht so sehr herausgearbeitet habe. Die Frauen sind zwar seltsam, aber ich habe mich auf ihre Stärken konzentriert. Auch wenn sie aus einem bestimmten Blickwinkel natürlich verrückt sind. Aus aktueller und rationaler Sicht sind sie extravagant, ziemlich verrückt, einfach too much. Es ist amüsant, dass gerade das aus dem Text herausgezogen wurde, während eine andere Person sie vielleicht total nüchtern dargestellt hätte. Und auch das hätte der Text hergegeben. Also zeigen mir die verschiedenen Inszenierungen, dass das, worauf es mir ankam, funktioniert.

Wie hast du die Frauenfiguren in Les sangs entwickelt?

Audrée: Ich wollte in Les sangs mit verschiedenen Erzählstimmen arbeiten. Sie sind nicht in der Reihenfolge aus dem Buch entstanden, und auch nicht alle auf dieselbe Weise. Einige fielen mit leichter als andere. Manchmal dauerte es, bis ich eine Stimme gefunden hatte, aber als das gelungen war, schrieb ich sie in einem Zug auf. An anderen Stimmen feilte ich lange. Ich habe mir jede Stimme einzeln vorgenommen, bin unterschiedlich an sie herangegangen. Dadurch konnte ich sie gut voneinander unterscheiden. Außerdem habe ich während meiner Arbeit an Les sangs viele Autofiktionen von Frauen gelesen und darauf geachtet, wie sie sich ausdrücken und welche Wirkungen sie damit erzielen. Ich las Annie Ernaux, Marguerite Duras, Nelly Arcan und Martine Delvaux, schaute sie mir ganz genau an und extrahierte Texturen, um meine Frauenstimmen individuell zu gestalten.

Ist die eine oder andere dieser Stimmen bei dir hängengeblieben, sodass du sie vielleicht noch einmal aufgreifen wirst?

Audrée: Nein. Als sie fertig waren, habe ich sie losgelassen. Es gibt allerdings eine Figur, die mich tatsächlich weiter begleitet: Noé. Noé ist eine ziemlich verwirrende Figur, sogar für mich. Wahrscheinlich lässt sie mich gerade deswegen nicht los. Sie ist für mich – ohne das ich genau sagen kann, warum – eine Allegorie für die Kunst, so als verkörpere sie das literarische Schreiben. Noé bleibt für sich allein, was bedeutet, dass die Brutalität der Welt einfach an ihr vorbei geht. Was um sie herum geschieht, erschüttert sie nicht, sie nimmt es eher und verwandelt es in ein Lied, ein ausgestopftes Tier oder eine Zeichnung. So geht es mir mit dem Schreiben. Ich nehme die Welt wahr, halte mich aber nicht zu lange mit ihr auf, sondern wähle etwas aus, das ich in etwas anderes verwandle.
Noés Drang aufzubrechen, findet sich ebenfalls in der Kunst wieder, wo ständig neue Projekte warten. Es ist wie eine nie endende Reise. Aus diesen Gründen beschäftigt mich Noé mehr als andere Figuren meiner Bücher.

Noés Geschichte beginnt in Oss. In deinem Roman Le corps des bêtes treffen wir sie wieder, unter anderem in einer Szene, in der sie aufbrechen will, allerdings von Osip Borya auf brutale Weise daran gehindert wird.

Audrée: Wegen dieser Szene habe ich mit meinem Lektor Pascal, der auch mein Ehemann ist, gestritten. In jeder einzelnen Version des Romans war es mir wichtig, dass Noé für Mie bleibt. Darin liegt die Tragik des Romans: Mie versucht verzweifelt, eine Beziehung zu ihrer Mutter herzustellen, die ein riesiges Opfer gebracht hat, von dem Mie aber nichts weiß. Auf dieser Ambiguität fußt der Roman. Indem Noé bleibt, gibt sie alles auf, was sie ausmacht, Mie wird das aber nie erfahren.
Es war eine extrem wichtige Szene, die wirklich schwierig zu schreiben war, da ich nicht kitschig werden wollte. Es gab viele Versionen, die nicht funktioniert haben, und dann bekam ich eine hin, die Pascal akzeptiert hat.
Selbst Osip versteht sein eigenes Handeln nicht. Es war schwierig, etwas einigermaßen Richtiges hinzubekommen, und eigentlich funktioniert es technisch auch gar nicht. Ich meine, ein Boot bricht nicht so schnell auseinander. Es ist also keine wirklich reale Szene, dafür aber eine, die erzählerisch die Geschichte dahin lenkt, wo ich sie haben möchte. Sie ist schlimm, aber nicht tragisch oder melodramatisch.
Le corps des bêtes enthält mehrere Geschichten und bietet somit unterschiedliche Lektüren, je nachdem, für welchen Strang sich die Lesenden entscheiden. Dass es nicht nur eine klare Linie gibt, verunsichert viele. Doch die Geschichte ist nun einmal nicht chronologisch aufgebaut. Lesende können sich zum Beispiel für Osip interessieren und dafür, was ihm geschieht, oder für Mie oder für Noé oder für die Sexualität oder für die Natur oder das Familiengefüge. Das alles enthält der Roman. Doch das alles auf einmal ist viel zu viel, weshalb sich Lesende auf eine Geschichte konzentrieren sollten. Wenn sie den Roman nach fünf Jahren noch einmal lesen, werden sie sich wohl für eine ganz andere Geschichte entscheiden.

Das alles steckt also in dem Roman, der in einem besonderen Kontext spielt und zeitlich Sprünge macht.

Audrée: Die erzählte Zeit umfasst den Moment des Wartens, d. h. in der Gegenwart des Textes passiert eigentlich gar nichts. Mie befindet sich in ihrem Zimmer und wartet, mehr nicht. Aber das ist nicht das Interessante. Daher bedarf es einer weiteren Anstrengung der Lesenden. Der Prix des collégiens hat mir gezeigt, dass mein Romans ein gewisses Alter beziehungsweise eine fortgeschrittene Lesekompetenz verlangt, die mit 17 oder 18 Jahre vielleicht noch nicht vorliegt.

Noé stieß zur Familie Borya, als diese sich in ihrem Leuchtturm bereits eingelebt hatte.

Audrée: Noé ist, wie gesagt, eine Figur aus Oss. In Oss erfahren wir, dass sie aus einem Dorf am Wasser stammt, das von der Waljagd lebt. Sie kommt also wie die Brüder Borya aus der Welt des Wassers. Nur können die beiden nicht schwimmen, was absurd ist. Es gibt viele Menschen, die am Wasser leben, aber nicht schwimmen können.

Sie kommt dazu und bleibt erst einmal. Sie bringt als erstes Mie zur Welt, dann weitere Kinder. Beide Brüder Borya begehren sie – sie haben ja auch keine große Auswahl. Die Erstgeborene ist sehr neugierig und hat viele Fragen, die allerdings unbeantwortet bleiben, da ihre Mutter kaum spricht.

Audrée: Noé äußert sich ihrer Tochter gegenüber nicht mit ihrer Stimme, sondern auf eine Weise, die tief aus ihrem Inneren kommt, und zwar in einem Haus, in das die Kinder jedoch nicht gehen – vermutlich weil sie nicht dürfen. Deshalb hat Mie keinen wirklichen Zugang zu den Gedanken ihrer Mutter. Auch Osip spricht nicht. Er hockt oben im Leuchtturm und ist eigentlich depressiv. Er langweilt sich, ist unzufrieden und frustriert wegen seiner Rolle in der Familie und wegen dem Platz, den sein Bruder bei Noé und auch bei seiner Mutter und den Kindern inne hat. Osip ist unglücklich und mischt sich nur selten unter die anderen. Und Mies Vater lebt quasi im Wald und kommt nur nach Hause, wenn er Essen hat. Auch er ist ihr kein Lehrer.

Einmal bringt er ihr ein Heft zum Schreiben mit.

Audrée: Genau. Er kennt sein Kind. Das war mir wichtig. Sévastien kommt nur sehr selten vor. Er bringt für Mie ein Heft mit, für seinen Bruder Tee und Alkohol für seine Mutter. Er bringt ihnen, was sie am meisten brauchen. Ich hatte nicht genug Platz, um alle Figuren gründlich zu durchleuchten. In früheren Versionen waren sie mehr ausgestaltet. Ich fand, dass dieses winzige Detail seinem sonst brutalen Charakter eine andere Seite verleiht. Das macht das Ganze ein wenig kompliziert, aber so gehe ich beim Schreiben eben vor. Es gibt so viele Details, die alle eine Bedeutung haben, manchmal sogar mehrere. Sie ermöglichten es mir, die Seiten zu reduzieren. Aber ich denke, dass der Roman etwas zu dicht geworden ist. Es braucht mehrere Lektüren, um all die Aspekte der einzelnen Figuren zu erkennen. Ich habe daraus gelernt, sodass mein nächster Roman etwas klarer ist, auch wenn er ebenfalls dicht sein wird.

Wie gehst du beim Schreiben vor?

Audrée: Viele geschriebene Szenen behalte ich nicht. Ich schreibe zum Beispiel ein paar Seiten, wähle davon aber nur ein oder zwei Ausschnitte, die ich überarbeite und um weitere Details ergänze. Doch das gilt eher für meinen aktuellen Roman, wobei ich da ähnlich vorgehe wie bei Le corps des bêtes. Ich verdichte und priorisiere, ohne bewusst zu entscheiden, was. Allerdings achte ich nach dem letzten Roman und den Rückmeldungen der Lesenden mehr auf Verständlichkeit. Für mich ist alles verständlich, weil die Figuren ein Teil von mir sind und mich beschäftigen, doch gilt das auch für die nicht akademische Leserschaft? Können sie dem Text bei einer einmaligen Lektüre folgen? In Le corps des bêtes stagniert der Text ja, weil die erzählte Zeit den Moment darstellt, in dem das Mädchen in ihrem Zimmer wartet. Mein nächster Roman ist anders strukturiert und ich frage mich ständig, ob ihm zu folgen ist. Ich weiß, was ich erzählen möchte, möchte aber nicht alles genau beim Namen nennen.
In meinem nächsten Roman geht es um ein Paar, das wir von Anfang an, also bei ihrer Geburt, kennenlernen und bis zu dem Moment begleiten, an dem ihre Beziehung zerbricht. Ich erzähle von ihnen, indem ich entscheidende Momente auswähle. Ich sage nicht, dass ich die Geschichte von einem Paar erzähle, sondern erzähle die Geburt der einen und die Geburt des anderen. Wichtig sind die Perspektive, aus der ich erzähle, und die Wörter, die ich benutze, sodass das transportiert wird, was ich vermitteln möchte. Ich möchte erzählen, wie zwei unterschiedliche Individuen ihre jeweils eigene Sicht auf die Dinge haben, ohne dass eine der anderen überlegen ist. Aber auch das will ich nicht explizit sagen, deshalb muss ich jede Szene genau wählen und auf ihre Anordnung achten. Die Szenen sind sehr dicht. Sie zeigen, wie sie zur Natur stehen, zu anderen, zur Partnerschaft, zum unmittelbaren Umfeld, zur Weiterentwicklung, dem Übergang von einer Lebensphase zur nächsten.

Das hört sich nach einem komplexen Entstehungsprozess an. Planst du die Struktur vorab auf dem Papier?

Audrée: Das würde mir vielleicht helfen, aber nein. Der Roman besteht aus vier Teilen, die den Jahreszeiten nachempfunden sind. Aber die Namen werden nicht bleiben. Jeder Teil zeigt die Figuren in einem bestimmten Alter. Ich schreibe gerade den ersten Teil und weiß genau, wo ich anfange und bis wohin ich kommen möchte. Ich arbeite mich Stück für Stück vor, habe aber keinen detaillierten Plan. Es ist eigentlich recht simpel: Die Figuren müssen auf die Welt kommen, sich kennenlernen, heiraten, in ein Dorf ziehen, Kinder bekommen und sich dann entzweien. Ich kenne also die Eckpfeiler, weiß aber noch nicht genau, welche Szenen mir ermöglichen, genau das zu zeigen.

Liest du während du schreibst?

Audrée: Lange Zeit habe ich das nicht getan. Da ich inzwischen aber meine eigene literarische Stimme gefunden habe, ist das kein Problem mehr. Was ich lese, wirkt sich nicht mehr auf mein Schreiben aus. Oft finde ich Anregungen, die ich später auf die eine oder andere Art einfließen lasse. Ich lese überwiegend Gedichte, kaum Romane. Meist lese ich ein paar Gedichte, bevor ich anfange zu schreiben, um der Sprache so ganz nah zu kommen. Es ist eine gute Hinführung zum Schreiben. Es muss kein ganzer Gedichtband sein. Es reichen ein paar Gedichte, fünf bis sechs Seiten, aus Bänden, die ich schon einmal gelesen habe. Um ich einzustimmen, wähle ich Gedichte, die in die Richtung gehen, in der ich textlich arbeiten möchte. So verhelfen sie mir zu dem richtigen Vokabular und einer bestimmten Art und Weise, mit der Sprache zu arbeiten.

Letzte Frage: Welche Bücher von Québecer Autorinnen und Autoren würdest du empfehlen?

Audrée: Ich bleibe bei der Dichtung und empfehle Chiens de fusil von Alexie Morin und La fatigue des fruits von Jean-Christophe Réhel. Und auch die Romane Les villes de papier von Dominique Fortier und La dévoration des fées von Catherine Lalonde.