November 2023 in Montréal, es ist kurz nach vier. Ich treffe Juliana Léveillé-Trudel im Café Les Oubliettes, das den Hauptandrang des Mittagsgeschäfts schon hinter sich hat. Wir wählen einen ruhigen Tisch im hinteren Teil des Cafés, direkt an der Fensterfront und mit Blick auf den Mont Royal. Juliana Léveillé-Trudel ist 1985 in Montréal geboren. Sprache, Sprachbarrieren und die Begegnung von Kulturen spielen in ihrem Werk eine zentrale Rolle. Ihr Debütroman Nirliit handelt von den Lebensbedingungen der Inuit, die im hohen Norden Québecs in der Region Nunavik leben. Das Buch wurde von der Kritik hoch gelobt, gewann mehrere Preise und wurde in verschiedene Sprachen übersetzt. 2022 folgte die Fortsetzung On a tout l’automne.
Juliana, du bist Schriftstellerin und Autorin von Kinderbüchern und zwei Romanen. Eigentlich kommst du aber eher vom Theater?
Juliana: Nicht ganz. Am Anfang meiner akademischen Laufbahn habe ich Kulturanimation an der UQAM studiert, aber Theater und Schreiben haben mir schon immer Spaß gemacht. Ich wollte auf die Theaterschule gehen und Schauspielerin werden, nur war das schwierig, weil es viele Bewerbungen und nicht genügend Plätze gab. Ich versuchte mein Glück, ging zu wenig erfolgreichen Vorsprechen und brachte mich parallel dazu bei Uniaufführungen ein. Und ich fing an, eigene Texte zu verfassen. Ich wollte meine eigenen Figuren schaffen, ein bisschen wie Xavier Dolan. Ich hatte schon als kleines Kind gerne geschrieben, dachte aber nicht, dass Schreiben ein eigener Beruf sein könnte. Ich schrieb immer mehr, sogenannte contes urbains, die ich durch meine Arbeit als Platzanweiserin am Theater kennengelernt hatte. Diese Form hat sogar ein eigenes Festival. Ein conte urbain ist eine Art theatraler Monolog: Jemand steht alleine auf der Bühne und erzählt seine Geschichte. Ich habe mich auf Anhieb in diese Form verliebt. Ich trat mit meinen contes urbains an der Uni auf und bekam sehr gutes Feedback, insbesondere in Bezug auf mein Schreiben, auf meine Texte als solche. Also sagte ich mir, vielleicht sollte ich es weiter mit dem Schreiben versuchen. Ich gründete meine eigene Theater-Kompanie, das Théâtre de Brousse. Mit ihr führte ich contes urbains auf, war auch beim Fringe Festival dabei, alles relativ Underground. Ich bewarb mich auch bei der École nationale de théâtre für das Programm Dramatisches Schreiben. Zweimal habe ich das Auswahlpraktikum dort absolviert. Sie nehmen jedes Jahr nur zwei Personen an, in der Vorauswahl sind es sechs. Es bis dahin zu schaffen ist nicht schlecht, aber danach fiel die Wahl beide Male auf jemand anderen. Es kommt sehr selten vor, dass jemand auch nach dem zweiten Praktikum nicht behalten wird, das war schon schwer zu schlucken …
Mein Interesse am Schreiben konzentrierte sich also hauptsächlich aufs Theater. In dem Sommer, in dem ich zum ersten Mal von der École nationale abgelehnt wurde, habe ich angefangen in Nunavik zu arbeiten. Ich war hin und weg. „Mein Gott“, dachte ich, „dieser Ort hat etwas von einer Filmszene, er ist so literarisch, dass man darüber schreiben müsste.“
So hat die Arbeit an Nirliit begonnen?
Juliana: Ja. Ich wusste sofort, dass das kein Theaterstück werden könnte, denn die Inuit sprechen kaum, beziehungsweise gar nicht. Ich dachte, dass das ein seltsames Theaterstück wäre, und entschied mich für Prosa. Ich hatte immer diese vage Idee im Kopf, eines Tages einmal einen Roman zu schreiben. Ich habe schon immer gerne und viel gelesen, aber eben nie Literatur studiert. In diesem einen Sommer fing ich an, Dinge in einem Heft zu notieren, alles, was mich interessierte, faszinierte, was mich beeindruckte, ob positiv oder negativ. Das habe ich zwei Sommer lang gemacht. Als ich im Sommer 2013 das zweite Mal von der École nationale abgelehnt wurde, erfuhr ich bei meiner Ankunft in Nunavik, dass eine Frau, die ich kannte und sehr schätzte, verschwunden gemeldet worden war. Man hat sie bis heute nicht gefunden, aber wir wissen, dass sie tot ist, weil jemand den Mord an ihr gestanden hat. Auf dieser Frau beruht die Figur Eva im Buch. Für mich war diese Nachricht ein Schock. Ich hatte ein großes Bedürfnis, darüber zu sprechen, im Grunde mit ihr zu sprechen. Deshalb richtet sich die Erzählerin im ersten Teil des Buches an sie. Die ganzen Notizen, alles, was ich in den ersten beiden Sommern ohne konkrete Absicht aufgeschrieben hatte, wurde plötzlich Material. Ich wollte, wie gesagt. einen Roman schreiben und fing an, etwas strategischer an der Struktur zu arbeiten, aber ich hatte keinerlei Erfahrung, keine Form im Kopf. Ich habe einfach versucht einen Text zu schreiben, wie ich ihn gerne lesen würde.
Hast du ausschließlich auf Basis deiner Notizen und persönlichen Erfahrungen gearbeitet oder zusätzlich gezielte Recherchen, Interviews oder ähnliches vor Ort durchgeführt?
Juliana: Ich habe insgesamt zwei Jahre an dem Buch gearbeitet. Im Sommer 2013 hatte ich tagsüber mit Kindern in dem Feriencamp, das ich gegründet hatte, zu tun. In Nunavik gibt es weder Kino, noch Geschäfte oder Restaurants und meine Familie war auch weit weg, was bedeutete, dass ich abends und am Wochenende ziemlich viel Zeit hatte. Also schrieb ich an meinem Buch. Etwas später, gegen Herbst, war ich wieder zu Hause im Süden und nahm mir das Geschriebene erneut vor. Wegen meines Jobs hatte ich weniger Zeit, aber ich behielt das Projekt immer im Hinterkopf. Im darauffolgenden Sommer fuhr ich wieder in den Norden und schrieb dort weiter. Ein Jahr später hatte ich einen Text, der in etwa dem ersten Teil des Buches entspricht. Mir gefiel, was ich geschrieben hatte, es war nur etwas kurz für einen Roman.
Darauf folgte erst mal eine Schreibblockade, also beschloss ich, mich für das Mentorenprogramm der Union des écrivaines et des écrivains québécois zu bewerben. Jedes Jahr kann man dort ein Manuskript in so ziemlich jedem Stil einreichen, zusammen mit einem kurzen Schreiben, mit dem man das Projekt vorstellt. Die Jury wählt aus den eingereichten Projekten zehn aus und bringt die Leute mit erfahrenen Autorinnen und Autoren zusammen, die in einem ähnlichen Stil arbeiten. Meine Bewerbung war erfolgreich und so lernte ich im Herbst 2014 Jean Désy kennen. Vor seiner Schriftstellertätigkeit war er häufig als Arzt bei den Inuit in Nunavik tätig. Er ist inzwischen Ende sechzig, hat also sehr viel Erfahrung und kennt die Region sehr gut. Das war ein perfektes Match. Ich habe ihm von meiner Schreibblockade erzählt, davon, dass ich mehr schreiben wollte, aber das Gefühl hatte, bereits alles gesagt zu haben. Seine Antwort lautete: „Na dann erfinde Sachen.“ Am Anfang hatte ich Angst, unglaubwürdig zu wirken, folgte aber schließlich seinem Rat und so entstand der zweite Teil des Buches. Die Ausgangspunkte sind trotzdem wahr. Ich wusste zum Beispiel, dass die Frau, die mich zu Eva inspiriert hat, einen Sohn hatte, der sehr jung Vater geworden war und nicht sicher, ob er der biologische Vater des Kindes war. Aber das ist alles. Ich kannte auch eine junge Frau, die etwas mit einem Bauarbeiter hatte, aber ich kannte keine Details. Also habe ich dort angesetzt und mir den zweiten Teil ausgedacht, habe mir ausgemalt, was mit Evas Sohn passiert. 2015 fing ich dann beim Verein Fusion Jeunesse an. Die Organisation unterstützt den weiterführenden Bildungsweg in Nunavik. Ich wohnte damals schon in Montréal, flog aber mehrmals im Jahr in den Norden. Auch wenn ich nicht mehr in den Ferienlagern arbeitete, war ich weiterhin vor Ort, unter anderem im Dorf Salluit. Ich würde also nicht sagen, dass ich viel recherchiert habe, das meiste beruht wirklich auf meinen eigenen Erfahrungen aus meinen ersten vier Jahren in dieser Gegend, von 2011 bis 2015. Es ist sehr nah an meiner Lebenserfahrung. Manchmal fragen mich Leute, warum ich keinen Augenzeugenbericht, keinen dokumentarischen Text daraus gemacht habe. Aber es war mir wichtig, dass es eine Fiktion bleibt. Ich wollte mir die Freiheit bewahren, Dinge zu ändern – die meisten Dinge sind wahr, aber manches ist eben doch erfunden. Ich maße mir nicht an, einen objektiven Text geschrieben zu haben, ich wollte mit der Erzählung spielen können. Zum Beispiel tue ich manchmal so, als passierten der Erzählerin gewisse Dinge, die in Wirklichkeit aber andere aus meinem Umfeld erlebt haben. Oder der Schauplatz war eigentlich ein anderes Dorf als Salluit. Nirliit dokumentiert also keine Realität. Der Roman beruht vor allem auf meiner mehrjährigen Arbeitserfahrung vor Ort.
Meine Theaterkompanie habe ich schließlich aufgelöst und 2018 an ihrer Stelle die NPO Productions de Brousse gegründet. Unser Kernprojekt heißt Enfabulation, aber wir produzieren auch literarische Werke, Theaterstücke und Events, und wir bieten Kulturmediation mittels Schreiben an.
Nirliit liest sich sehr wütend und impulsiv. Manchmal erinnert es mich fast an Slam. Wie hast du deinen Stil, deine Sprache gefunden? Hast du dir beim Schreiben laut vorgelesen?
Juliana: Ja genau. Ich habe ja vor allem fürs Theater geschrieben und war es daher gewohnt, Texte zu verfassen, die gehört, nicht gelesen werden sollten. Ich habe mir tatsächlich während des Schreibens häufig laut vorgelesen, habe quasi sprechend geschrieben. Ich hatte keinerlei Ausbildung, aber ich wusste, was mir gefällt. Ich mag es, wenn ein gewisser Fokus auf der Sprache liegt. Manche Bücher erzählen – in Québec zumindest, soweit ich das beurteilen kann – unglaublich gute Geschichten, aber auf eine eher langweilige, alltägliche Art. Ich verstehe das auch, manchmal muss deine Figur eben duschen gehen und das lässt sich vielleicht nicht immer poetisch ausdrücken. Aber ich wusste, dass ich mit der Form arbeiten wollte. Ich fragte mich, worin der Reiz liegt, etwas in Buchform zu lesen, das man auch so erzählt bekommen könnte. Deshalb wollte ich, dass man eine Stimme hört, dass es gut klingt. Ich wollte eine gewisse Musikalität schaffen.
Ich habe Nirliit für die Organisation Vues et Voix eingesprochen. Vues et Voix produziert Hörbücher für schlecht hörende Menschen oder Personen mit Leseschwierigkeiten. Im Studio erfuhr ich, dass manche Autorinnen und Autoren, die zu ihnen kommen, anfangen zu lesen und sich dann in ihren Sätzen verhaspeln oder sich plötzlich bewusst werden, dass sich ihr Text nicht so gut liest. Das ist lustig, denn so etwas passiert dann, wenn du ihn dir vorher nie laut vorgelesen hast. Beim Vorlesen fällt einem vieles auf, etwa wenn eine Satzstruktur komisch ist. Ich habe wirklich sehr viel laut gelesen. Ich war damals auch sehr von meinen Gefühlen überwältigt. Nirliit handelt von dem Schock, den ich bei meiner ersten Ankunft in Nunavik erlebt habe. Ich war um die 25 Jahre alt, als mir klar wurde, was in Kanada, in Québec, alles passiert, wie viel Ungerechtigkeit und Schichten des Kolonialismus noch präsent sind, obwohl das doch theoretisch der Vergangenheit angehören soll. In Nirliit kommen Empörung, Schock und Naivität zum Ausdruck, während On a tout l’automne eher ruhig ist, es ist die Perspektive einer Person, die mehrmals da gewesen ist, die die Entwicklung der Dinge erlebt hat – was nicht unbedingt negativ ist. Nirliit hat auf jeden Fall eine besondere Schlagkraft, und so etwas kann es auch nicht zwei Mal hintereinander geben. Denn eigene Erschütterung und Empörung auszudrücken ist das eine, aber das gleiche genauso ein zweites Mal zu machen, das funktioniert nicht.
Nirliit gibt es auch als Bühnenstück, das durch Québec getourt ist. Denkst du beim Schreiben automatisch mit, über welche Kanäle deine Kunst zum Publikum gelangen kann?
Juliana: Nicht wirklich. Nirliit ist mein erster Roman. Ich wusste nichts über den Buchmarkt, hatte keine Ahnung, ob jemand das verlegen wollen würde, ob sich das verkaufen würde. Ich wollte ihn einfach schreiben und dann versuchen, einen Verlag zu finden. Weiter habe ich nicht gedacht. Aber klar, sobald er einmal draußen ist und in der Welt existiert, machst du eine Buchpremiere, liest einen Absatz vor, wirst in einen Buchclub eingeladen, liest noch einen Auszug vor Publikum, und bekommst etliche Kommentare. Ich habe oft gehört: „Der Text gefällt uns, aber ganz besonders gefällt uns, wie du ihn vorliest.“ In diesem Moment hat mein ganzer Werdegang plötzlich Sinn ergeben und die Idee eines Bühnenstückes nahm Form an, aber das war ursprünglich nicht geplant. Rückblickend würde ich sagen, dass es auf jeden Fall zahlreiche Wege gibt, Literatur lebendig werden zu lassen. Es ist nicht einfach ein Buch, das du alleine zu Hause liest, du kannst es auf etliche Arten lebendig machen, und zumindest in Québec entwickelt sich das gerade besonders, zum Beispiel mit dem Festival international de littérature. Es gibt viele Veranstaltungen, die auf Büchern oder Buchauszügen basieren, manchmal sogar mit musikalischer Begleitung. Das kommt immer mehr in Mode. Es ist überhaupt nicht langweilig, Leuten beim Vorlesen von Textauszügen zuzuhören, das ist eine ganz besondere Erfahrung. Diese Entwicklung freut mich sehr, denn ich glaube, ein Buch alleine zu Hause zu lesen, kann schön sein, aber es zu hören und präsentiert zu bekommen, das ist auch etwas Besonderes, wovon es noch viel mehr geben sollte.
On a tout l’automne ist sieben Jahre nach Nirliit erschienen. Woher wusstest du, dass die Geschichte noch nicht abgeschlossen war?
Juliana: Wenn ich mich richtig erinnere, hielt die Verlegerin das Manuskript von Nirliit im Juni 2015 in den Händen. Ich hatte großes Glück, denn jemand, der im Herbst 2015 hätte veröffentlichen sollen, war kurzfristig abgesprungen – er war wohl noch nicht fertig –, und so hatten sie einen Platz in ihrem Programm frei. Das war wirklich ein Glücksfall. Ich wusste damals nicht, dass es in der Verlagswelt Fristen und Wartezeiten gibt, dass das auch ein oder zwei Jahre hätte dauern können. Ich weiß nicht, wer da für seine Veröffentlichung nicht fertig war, bei wem ich mich bedanken könnte. Auf jeden Fall ging ab dem Moment, wo der Verlag das Manuskript hatte, alles unglaublich schnell. Wir haben sehr intensiv zusammengearbeitet, ich habe rasch die Kommentare der Verlegerin erhalten und den Text überarbeitet. Im August war der Text druckfertig. Eigentlich war mein Plan, das Schreiben in dieser Zeit ruhen zu lassen, aber für meinen Job und andere Projekte reiste ich im Juni, Juli und September nach Nunavik, und notierte natürlich weiter Dinge in meine Hefte. Dabei dachte ich mehrmals, dass dieses oder jenes eigentlich auch noch ins Buch müsste. Aber das Projekt war abgeschlossen, es war Zeit, es dabei zu belassen und etwas Neues in Angriff zu nehmen. Ein Thema, das mir eines weiteren Buches wert schien, war das Aufwachsen der Kinder. In meinen fünf Jahren in Nunavik hatte ich acht-, neunjährige Kinder heranwachsen sehen. Die Pubertät ist in allen Kulturen eine faszinierende Zeit, aber im geographischen, politischen und historischen Kontext Nunaviks ist sie natürlich doppelt speziell. Es faszinierte mich und machte mich auch traurig, manche Kinder zu erleben, die sehr glücklich und vergnügt waren und dann ein paar Jahre später plötzlich düster, so als hätte sie das Leben eingeholt. Auch das kann natürlich jedem Jugendlichen passieren, aber ich dachte viel darüber nach, fragte mich immer wieder, warum das so war und was wohl passiert war. In den ersten Jahren kam ich nur im Sommer und war den Rest des Jahres nicht da. Bei meiner Rückkehr hatten sich manche Kinder oft stark verändert. Da setzte ich an, überlegte, was solche Veränderungen hervorruft. Es passieren herzzerreißende Dinge, viele Jugendliche dort haben Schmerzhaftes durchlebt, aber ich finde, es liegt auch etwas Schönes in der Stärke oder Resilienz einer Jugend, die solche Prüfungen übersteht.
Das war der Antrieb bzw. der Ausgangspunkt für meinen zweiten Roman: Ich wollte von den Kindern erzählen und von ihrem Übergang ins Erwachsenenalter. Letztendlich habe ich über viele Jahre an dem Projekt geschrieben, sechs um genau zu sein, unter anderem weil ich lange auf der Suche war. Ich versuchte im Grunde, ein zweites Nirliit zu schreiben, und das ging nicht. Ich war frustriert, ärgerte mich, dass es nicht funktionierte, wo es bei Nirliit doch so einfach gewesen war. Nirliit ist in seiner finalen Fassung fast identisch mit dem ersten Entwurf, es wurden nur sehr wenige Änderungen vorgenommen. Ich wollte, dass es beim zweiten Buch genauso läuft. Mein Freund sagte mir, dass das mit Nirliit nicht normal gewesen sein, dass das der Sonderfall war. Ich glaube, es geht vielen Leuten mit ihrem ersten Buch so: Es hat sich in dir viel angestaut, was dann alles auf einmal rauskommt, und danach geht es langsamer voran. Von On a tout l’automne gibt es insgesamt vier Versionen, das gedruckte Buch ist die vierte offizielle Version, und darunter liegen natürlich noch die Unterversionen. Es hat sich im Laufe des Schreibprozesses viel verändert, unter anderem auch, weil ich mich oft gefragt habe, wieso ich dieses Buch schreibe. Ja, ich hatte die Gelegenheit, noch etwas zu veröffentlichen, ja, mein erstes Buch hatte Erfolg, aber was wollte ich eigentlich machen? Am Anfang hatte ich eine Krimigeschichte im Kopf. Ich wollte über die Rache zwei junger Frauen aus Salluit an einem Mann schreiben, der sie misshandelt hat. Der Film Das weiße Band hatte mich inspiriert. Er spielt kurz vor dem Ersten Weltkrieg in einem kleinen Dorf. Die Erziehung ist unglaublich streng, die Kinder werden regelmäßig geschlagen. Die zugrunde liegende These des Films ist, dass diese Generation zu Nazis heranwuchs, da sie sich unter dieser grausamen Erziehung vernachlässigt fühlten und sie das sozusagen entmenschlicht hat. Im Film geht es um eine Kinderbande, die sich an einem Erwachsenen rächt. Ich hatte das also im Hinterkopf. Aber ein Krimi ist ein ganz eigenes Genre, das ich nicht beherrsche, was mir dann ziemlich schnell klar geworden ist. Also verwarf ich diese Idee. Nur war das so, als würde ich das Fundament entfernen und das musste natürlich ersetzt werden. Ich hatte vorher schon überlegt, die Erzählerin aus Nirliit nach einer Weile nach Salluit zurückkehren zu lassen – auch dazu hat mich meine persönliche Geschichte inspiriert. Ich wollte auch über die Trauer der Erzählerin sprechen, die sie vielleicht noch nicht, oder noch nicht gut genug, verarbeitet hat. Gleichzeitig hatte ich den Wunsch, eine Distanz zu diesem Kummer zu schaffen und den Fokus auf die Kinder zu legen, die ihrerseits einiges durchmachen. Das hat mir schließlich eine neue Richtung gegeben. Es dauerte trotzdem Jahre, bis ich endgültig von der anderen Idee abgelassen und einen Ersatz gefunden hatte. Hätte ich das zweite Buch zügiger geschrieben, wäre es vielleicht einfacher gegangen, vielleicht wäre es zwei Jahre nach dem ersten erschienen. Es wäre in jedem Fall ein ganz anderes Buch geworden als das, an dem ich sechs Jahre gearbeitet habe.
In Nirliit richtet sich eine weiße Ich-Erzählerin an die Inuit. Das Lesepublikum besteht aber in erster Linie aus Nicht-Inuit aus Québec. Wie kam es zu dieser literarischen Entscheidung?
Juliana: Die Erzählerin richtet sich an Eva und das Buch spricht zu den Inuit, aber ich wusste natürlich, dass der Roman zwangsläufig auf Französisch in einem Québecer Verlag veröffentlicht und die Leserschaft eher allochthon sein würde. Gleichzeitig wissen die Inuit natürlich so ziemlich alles, was ich im Buch erzähle. Es war mir ein großes Bedürfnis, uns Québecern aus dem Süden diese Realität zu zeigen. Denn wenn du nicht die gleichen Gewohnheiten hast wie ich, wenn du nicht vor Ort arbeitest, dann weißt du nichts darüber, dann kennst du weder die Leute, die dort wohnen, noch jene, die dort arbeiten. In den letzten Jahren haben Themen über die indigene Bevölkerung zunehmend Aufmerksamkeit bekommen. Aber zu der Zeit, als ich anfing, an dem Buch zu schreiben – das war 2013 – wollte ich den Leuten vor allem die Augen öffnen. Ich wollte ihnen Dinge zeigen, die sie vielleicht noch nicht kannten, und dafür nutze ich die Ansprache von Eva als narratives Mittel.
Die letzte Frage auf quélesen ist immer: Welche Bücher würdest du zur Lektüre empfehlen?
Juliana: Oje, das ist keine leichte Entscheidung. Ich glaube, ich möchte zwei Québecer Bücher nennen … vielleicht eins, das für mich wichtig war, weil es meine Neugier für die indigene Bevölkerung geweckt hat. Ich habe es, glaube ich, mit 17 gelesen, und es hat mich nachhaltig geprägt, auch vom Schreibstil her. Zudem führte es mich in Themen wie Rassismus usw. ein. Es handelt sich um ein Buch von Louis Hamelin, einem Québecer Schriftsteller, der zu meinen Lieblingsautoren gehört, und heißt Cowboy. Es ist von seinem Leben inspiriert. Als Biologiestudent hat er einen Sommer als Angestellter bei einem Jagd- und Angelausstatter in der Haute-Mauricie verbracht, das liegt im Gebiet der Atikamek. Das Buch handelt von diesem Sommer und erzählt die Geschichte der Freundschaft zwischen einem jungen, unschuldigen Mann, der in die Stadt kommt, und einem jungen Atikamekw. Der junge Mann arbeitet also für den Ausstatter, wird sich dann aber zunehmend deren rassistischen Äußerungen bewusst, distanziert sich davon und nähert sich dafür den Indigenen an. Das war ein prägendes Leseerlebnis für mich und hat mich sehr neugierig gemacht.
Ansonsten ist eine unserer großen Québecer Dichterinnen Joséphine Bacon. Sie ist Innu und schreibt all ihre Gedichtbände auf Innu-Aimun und Französisch. Das finde ich eine gute Idee, denn auch wenn man kein Innu-Aimun versteht, kann man es doch sehen und sich vorstellen, wie es wohl ausgesprochen wird, und man kann es mit dem Französischen vergleichen. Ich könnte jeden ihrer Bände nennen, den letzten habe ich noch nicht gelesen, aber sie sind alle gut … am meisten mochte ich Bâtons à message – Tshissinuatshitakana. Aber ich könnte auch jedes andere Buch von Joséphine Bacon nennen.