La femme qui fuit von Anaïs Barbeau-Lavalette

12. Januar 2017 | quélesen

Alles fing damit an, dass Mutter und Tochter gemeinsam der Frau einen Besuch abstatteten, die ihnen Mutter und Oma hätte sein sollen, die sich aber bewusst dagegen entschieden hat. Als sie in der Wohnung der Frau stehen, die eigentlich ein Teil ihres Lebens hätte sein sollen, ist die Situation angespannt. Vielleicht hätten sie doch nicht hinfahren sollen. Die besuchte Frau ist Suzanne Meloche. Sie hatte sich vor vielen Jahren gegen ihr Leben als Ehefrau und Mutter entschieden und Mann und Kinder verlassen, um durch die Welt zu reisen und ein freies Leben zu führen. Sie ist die Frau, die geflohen war. Als sie dann gestorben ist, unternimmt ihre Enkelin den Versuch, diese Frau kennenzulernen, vor der sie mehr Angst als Liebe empfunden hat und von der sie sich gewünscht hätte, sie hätte nicht existiert.

Suzanne Meloche war schon immer anders als ihre Geschwister. Sie war eines der vielen Kinder von Achille und Claudia Meloche. Das Leben war hart, gut bezahlte Jobs fehlten und ihr Vater war arbeitslos. Oft gerieten ihre Eltern aneinander. So früh wie möglich ließ Suzanne ihre Familie hinter sich und ging nach Montréal. Dort lernte sie Claude Gauvreau, Paul-Émile Borduas, Jean-Paul Riopelle und weitere Unterzeichner des Refus global von 1948 kennen. Umgeben von Kulturschaffenden widmete auch sie sich der Kultur. Sie zeichnete und schrieb. Sie lernte den Maler Marcel Barbeau kennen, den sie heiratete. Sie bekamen zwei Kinder. Dann wollte sie nicht mehr und kehrte ihnen und Montréal den Rücken.

Die Annäherungen der Enkelin an ihre Großmutter erfolgt über Beobachtungen, Recherchen und Analysen. Adressatin der Überlegungen und Nacherzählungen ist die Abwesende selbst. Zuerst bestimmen Wut und Kälte den Ton. Mit der Zeit und dem größeren Wissen, das durch Objekte, Kleidung und Niedergeschriebenes der Verstorbenen angereichert wird, mildert sich dieser harte Ton ab.

Anaïs Barbeau-Lavalette hat sich auf die Suche nach ihrer Großmutter begeben, auch mit der Hilfe eines Privatdetektivs. Herausgekommen ist dabei ein Buch, das den Leser gekonnt in vergangene geschichtsträchtige Zeiten führt und das das Leben einer Frau in eindrucksvollen Bildern nachzeichnet.

Anaïs Barbeau-Lavalette: La femme qui fuit
Roman
Marchand de feuilles, 2015
464 Seiten
24,95 $
Anaïs Barbeau-Lavalette wurde für ihren Roman La femme qui fuit 2016 mit dem Prix des libraires du Québec und dem Prix France-Québec ausgezeichnet. Zudem war sie für den Prix du Gouverneur général 2016 nominiert.

Ein Zitat:
« Nous sommes tes uniques héritiers. Tu nous invites donc enfin chez toi. C’est à nous d’aller vider ton petit appartement.
On part dans l’hiver à ta rencontre. À travers la tempête. Archéologues d’un quotidien opaque. Qui étais-tu?

Chez toi, à genoux, on cherche.
Ta garde-robe. Des chapeaux. Des robes. Beaucoup de vêtements noirs.
Je ne peux m’empêcher de plonger dans les tissus. L’odeur, habituellement, raconte tant. Mais même elle est secrète. Subtile, ténue, difficile à saisir. Un mélange acciden tel d’encens, de sueur des jours sans mouvement. Une note discrète d’alcool, peut-être?
Dans une boîte à souliers, des photos de nous: mon frère et moi, à tous les âges. Tu les as gardées. Et ma mère, d’année en année, a continué à te les envoyer. Nos âges sont inscrits à l’arrière, traces du temps perdu, raté, échappé. Tant pis pour toi.
Ma mère est assise dans ta chaise berçante. Doucement, elle te touche. Pose ses mains où tu les as posées. Embrasse le rythme d’une berceuse, celle qui lui a manqué.
Dans la petite salle de bain, je trouve du rouge à lèvres très rouge. Et des petits bâtons de khôl. Dont tu marquais ton regard, lui donnant de la force. J’en dépose un trait sous mes yeux » – Anaïs Barbeau-Lavalette: La femme qui fuit, Marchand de feuilles, 2016, S. 16-17