Ausstellung zu einem Roman von Kim Thúy im Kulturzentrum von Longueuil, 3. Juni bis 5. September 2016

8. August 2016 | Reportage

Wohin Bücher führen können, zeigt eine Ausstellung, die im Kulturzentrum von Longueuil (300, rue Saint-Charles Ouest, Longueuil, QC J4H 1E6) vom 3. Juni bis zum 5. September 2016 gezeigt wird. Der Titel der Ausstellung lautet „Sous l’écorce des mots“, also „Unter der Rinde der Wörter“ und kommt von einem Pärchen von Spielzeugskulpteuren, die ein Roman zu dieser Ausstellung inspiriert hat. Zum einen zeigt sich im Titel das grundlegende Material, das für die Exponate verwendet wurde – Holz – und zum anderen sind es die Wörter, die Grundlage für die Ausstellung der Stücke des Künstlerpaars sind: Sie stammen aus Kim Thúys Roman Ru (Der Klang der Fremde, Kunstmann 2010). In ihrem Buch schildert die Autorin, die selbst in Longueuil wohnt, die Ankunft einer Vietnamesin in Montréal. Sie flüchtete als Kind aus ihrem Land übers Meer, verbrachte Tage der Ungewissheit in einem Flüchtlingslager in Malaysia und gelangte schließlich nach Kanada, wo sie sich nach und nach einlebte, aufwuchs und ihren eigenen Weg ging. Der Roman ist vom Leben der Autorin inspiriert. Ihre Kindheit verbrachte sie ohne Spielzeug und so entschieden die beiden Spielzeugspezialisten Marie-Annick Viatour und Gaétan Berthiaume nach der Lektüre des Romans, für sie Spielzeuge zu entwerfen und zu fertigen. Mit ihrer Idee sprachen sie Kim Thúy auf der Montréaler Buchmesse an. Nach rund zwei Jahren Arbeit entstanden 15 Szenen, die den Beschreibungen Thúys nachempfunden sind. Die ersten sieben sind Zeugnisse des Lebens in Vietnam und die folgenden acht erzählen von ihrem Leben in Québec. Die Künstler haben sich auf die Details der ausgewählten Auszüge konzentriert und diese umgesetzt. Dies zeigt sich in den einzelnen Elementen, im Einsatz von Farbe und Verzierung und in den Kontrasten der beiden Kulturen, denen die Hauptfigur in ihrem Leben begegnet ist. Die Auszüge, die als Quelle dienten, begleiten die einzelnen Szenen.

© Jean-Michael Seminaro

Da ist z.B. die Eröffnungsszene des Romans, in der es um das Geburtsjahr der Hauptfigur geht: Es ist das Jahr des Affen. Die Holzskulptur zeigt ein traditionell vietnamesisch gekleidetes Mädchen, das einen Holzkarren zieht. Darauf sitzt ein Affe, der eine Trommel schlägt. Es ist eine interessante, farbenfrohe und detailreiche Szene, die die Ausstellung eröffnet. Dabei ist Berthiaume für die Skulptur zuständig und Viatour für die Farbgestaltung. Eine weitere beeindruckende Szene ist die, die eine kleine Hütte auf einer großen Kugel zeigt. Die Kugel ist aus einem Baumtumor entstanden und veranschaulicht das Camp für Flüchtlinge in Malaysia. Durch eines der Löcher in der kleinen Hütte lugt ein noch kleineres Mädchen.

© Jean-Michael Seminaro

Die Ausstellung endet dann in einem Raum mit Foto- und Videodokumentation über das Projekt. Ein ca. 30-minütiger Film zeigt, wie Kim Thúy die Skulpturen zum ersten Mal sieht und entdeckt, eine Fotocollage an der Wand zeigt, wie die beiden Künstler bei der Umsetzung vorgegangen sind. Viele der Informationen erhält man dank der Texte an den Wänden und an den Schaukästen, wenn sich die Möglichkeit ergibt aber auch von Benjamin Cyr, einem der Angestellten im Kulturzentrum, der mich durch die Ausstellung geführt hat, bevor die Autorin am Abend vor einem gefüllten Saal im zweiten Stock des Hauses über ihren Roman sprach.

Neben den ausgestellten Exponaten, die von Thúys Roman inspiriert sind, werden in einem zweiten Raum weitere Exponate von Viatour und Berthiaume gezeigt. Die beiden waren erst Spielzeughersteller und sattelten dann auf die Produktion von Kunstwerken um, bei denen der Spielzeugcharakter aber beibehalten wurde. Die Retrospektive in diesem Saal zeigt, wie die beiden sich von Musikern und Autoren aus Québec wie Gilles Vigneault, Michel Tremblay und Fred Pellerin fortan zu ihren Werken inspirieren ließen und somit eine Brücke zwischen Literatur und Kunst schlagen, aber auch vergangene Populärkultur aktualisieren. Ausgehend von einem Textauszug erschaffen sie einzigartige Holzskulpturen mit spielerischen Zusatzfunktionen und Mechanismen, die aus der Spielindustrie kommen und die sie aus der eigenen Kindheit in Erinnerung behalten haben. Wer war in seinen Kindertagen nicht von beweglichen Spielzeugen fasziniert. Allerdings sind diese fragil, so dass sie leider nicht von jedem Besucher bespielt werden können. Ihre Funktionen werden dafür in verschiedenen Videosequenzen gezeigt. Aber auch die Phantasie des Besuchers wird angesprochen, wenn er denn einen Moment vor den gläsernen Kästen, die die Exponate schützen, verweilt und sie aufmerksam betrachtet. Dann sieht man hier und da einen möglichen Bewegungsmechanismus, der zu einer Veränderung der Szene führt.

Nach dem Besuch der Ausstellung ist man versucht, sich die textlichen Grundlagen für die Skulpturen erneut oder überhaupt vorzunehmen. Und man darf gespannt sein, was die beiden Künstler als nächstes in Angriff nehmen. Denn Viatour und Berthiaume haben ein interessantes Konzept gefunden, dessen Fortsetzung sie bereits planen. Nach dem Roman von Kim Thúy dreht sich das kommende Projekt um die Welt von Boucar Diouf, der im Québecer Fernsehen als Moderator auftritt und der Humorist, Kolumnist und Erzähler ist, der vor vielen Jahren aus dem Senegal nach Kanada gekommen ist.

Das Kulturzentrum in Longueuil zeigt das Jahr über vier Ausstellungen, hauptsächlich im Bereich der Bildenden Kunst. Die Ausstellung „Sous l’ecorce des mots“ ist noch bis zum 5. September 2016 zu sehen.