Amanita virosa von Alexandre Soublière

13. November 2015 | quélesen

Winchester Olivier, genannt Winnie, ist Hacker und gründete mit seinem Freund Samuel Colt die Agentur Hyaena. Sie bieten einen Service, der die Grenzen des Voyeurismus, der Liebe, der Pornographie, der Macht über den Anderen und der Phantasie überschreitet. Jeden noch so eigenartigen, ungewöhnlichen Wunsch ihrer Kunden können sie erfüllen. Sie wollen beim Sex unter Einfluss von Beruhigungsmitteln mit anderen gefilmt werden. Sie wollen unbemerkt in das Privatleben ihrer ersten großen Liebe blicken. Hyaena hat die Möglichkeiten dazu, das zu zeigen, was sonst verborgen bleibt. Doch wie weit gehen die Anbieter einer solchen Dienstleistung? Gibt es moralische Grenzen?

Zumindest Winnie gelangt an den Punkt, an dem sich diese Frage stellt und er muss eine Entscheidung treffen. Er versucht, ein guter Mensch zu sein, auch wenn ihm nicht ganz klar ist, was einen guten Menschen auszeichnet. Er wurde auf einer Kampfmission für seinen ehemaligen Arbeitgeber verletzt und verliebte sich im Krankenhaus in Cécili. Doch sie trennte sich bald von ihm, ohne dass er die genaue Ursache erfuhr. Das nagt an ihm. Eines Tages lernt er die junge Sängerin Elsa kennen. Sie ist die Frau eines ihrer regelmäßigen Auftraggeber, der Gönner aber auch Spieler ist.

Winnie dringt unbemerkt in Elsas Leben ein, hackt sich in ihre Social Media Accounts und verliebt sich in sie. Das führt ihn in ein Dilemma und treibt einen Keil zwischen ihn und Samuel, der als Polizist unantastbar geworden ist. Winnie hatte Sam damals aus dem montréaler Kanal vor dem Ertrinken gerettet. Sie wurden Freunde und riefen ihre Firma Hyaena ins Leben.

Der zweite Roman von Alexandre Soublière erörtert ein interessantes Thema: Inwiefern ist unser Privatleben noch privat? Und was geschieht, wenn sich andere unbemerkt einschleichen und Dritten zusammengeschnittene Videos in schöner Verpackung zukommen lassen? Diese Fragen finden in Winnie und Elsa Widerhall. Beide sind junge, traurige Figuren, die ihr wahres Ich vor der Gesellschaft verbergen. Der Autor Soublière, der für das aktuelle Album des Musikers Dumas an den Songtexten gearbeitet hat, lässt die modernen Kommunikationsformen in seinen Roman einfließen, allerdings weniger stark als in seinem Debüt Charlotte before Christ. Die Liebesgeschichte zwischen Winnie und Elsa ist geprägt von Verboten, Versuchungen, einem Ausbruch und schwierigen äußeren Umständen. So nimmt die Geschichte in ihren Verstrickungen an Fahrt auf und endet im Chaos.

Alexandre Soublière: Amanita virosa
Roman
Boréal, 2015
312 Seiten
25,95 $
Ein Zitat:
« Hyaena est notre projet. Pour moi, c’est un retour à mon ancienne philosophie de pirate informatique. Il s’agit d’une extension de la pornographie, du libéralisme, de l’anarchie, des réseaux sociaux, du voyeurisme, de l’amour, de la jungle, du temps, du pouvoir, de l’imaginaire. En permettant aux clients d’être à deux endroits en même temps, on leur fournit la possibilité d’être invisibles et de braver les contraintes de la réalité. On leur offre des conquêtes qu’ils auraient pris plus d’une vie à amadouer. Ce n’est pas de la porno, c’est meilleur. Pourquoi ne pas aller plus loin que Facebook, Instagram, Snapchat et autres, en procurant aux gens qui veulent payer la possibilité de voir n’importe qui n’importe où, dans n’importe quelle situation. Incognito. Qui n’a jamais épluché le profil de quelqu’un en se disant: ‹ si seulement je pouvais en voir plus ›, ‹ enlève ton maillot ›, ‹ remonte ta jupe › ? » – Alexandre Soublière: Amanita virosa, Boréal, 2015, S. 33