Québecer lesen … #1

22. Juli 2014 | Québecer lesen

Als ich während meines letzten Aufenthalts in der kanadischen Metropole Montréal durch die Straßen schlenderte, war ich eine aufmerksame Beobachterin. Mich interessierte, was die Québecer so lesen. Manchmal versuchte ich das Cover aufgeschlagener Bücher in Cafés, Parks, Bibliotheken oder öffentlichen Plätzen zu erkennen, manchmal kam ich mit Lesern ins Gespräch. Nicht immer lasen die Montréaler bzw. die Leute, denen ich in Montréal begegnete, ihre eigene Literatur. Das hätte mich auch gewundert. Aber so manches Mal eben doch. Mir wurden Bücher genannt oder gezeigt, die sie gerade gelesen haben oder die sie mir auf jeden Fall empfehlen wollten. Für eine Fotostrecke fotografierte ich den Leser und sein Buch, das im Fokus des Bildes stand.

Als erstes fragte ich einen Québecer, der auf einer Terrasse eines Cafés auf der für Autos gesperrten Straße Sainte-Catherine in einem Buch las, welcher der letzte Roman gewesen ist, den er von einem Québecer Schriftsteller gelesen hat. Er antwortete mir: La grosse femme d’à côté est enceinte von Michel Tremblay.
La grosse femme d’à côté est enceinte von Michel Tremblay (Leméac, 1978) ist ein Klassiker der Québecer Literatur. Es ist der 1. Band der Reihe Chroniques du plateau Mont-Royal, die zwischen 1987 und 1997 entstanden ist.
Während meines Auslandsjahres an der Universität in Montréal stand es auf dem Lehrplan eines Seminars und so stürzte ich mich in die Lektüre dieses ersten Bandes. Die Geschichte spielt in Montréal an einem einzigen Tag und zwar dem 2. Mai 1942 und präsentiert das Leben einer Familie und deren Umgebung.
Auf den ersten Band folgten 5 weitere: Thérèse et Pierrette à l’école des Saints-Anges (1980), La Duchesse et le roturier (1982), Des nouvelles d’Édouard (1984), Le Premier Quartier de la lune (1989) und Un objet de beauté (1997).

Michel Tremblay: La grosse femme d’à côté est enceinte
Roman
Leméac, 1978

In der atmosphärischen Buchhandlung Le Port de tête an der belebten Straße Mont-Royal wurde mir wärmstens Arvida von Samuel Archibald (Le Quartanier, 2011) empfohlen. Der Titel verweist auf den Geburtsort des Autors, Arvida. Das Buch setzt sich aus Kurzgeschichten zusammen und ist bereits 2011 beim Verlag Le Quartanier erschienen. 2012 erhielt Samuel Archibald dafür den Prix des libraires und den Prix coup de cœur Renaud-Bray. In diesem Jahr erschien Arvida in einer Neuauflage bei Le Quartanier.

Samuel Archibald: Arvida
Kurzgeschichten
Le Quartanier, coll. Polygraphe 2011
324 Seiten
25,95 $

Eine junge Frau war vor der U-Bahnstation Mont-Royal in ein Buch vertieft. Sie las Un petit pas pour l’homme von Stéphane Dompierre (Québec Amérique, 2004) und sie erzählte mir, dass sie es schon lange hat und auch schon unzählige Male gelesen hat. Es ist der Debütroman von Stéphane Dompierre, in dem sich der Protagonist die Fragen aller Fragen, nämlich die nach dem Sinn seiner Existenz stellt. Protagonist ist der 30-jährige Daniel, der in einem Musikladen arbeitet und sich gerade von seiner Freundin getrennt hat.
Stéphane Dompierre erhielt 2005 für seinen ersten Roman den Grand prix de la relève littéraire Archambault.

Stéphane Dompierre: Un petit pas pour l’homme
Roman
Québec Amérique, 2004
228 Seiten
12,95 $

Weitere Infos zum Buch gibt es auf der Verlagswebsite quebec-amerique.com.

Auf dem Weg zum Eröffnungskonzert der 26. Francofolies de Montréal (Konzertberichte und Interviews hierzu findet ihr auf jennismusikbloqc) habe ich jemanden entdeckt, der seine Zeit des Wartens mit der Lektüre eines Buchs verbrachte. Er war Franzose, der für einige Monate in Montréal ist und der auch schon eine Zeit lang in Berlin gelebt hat. Er las L’Histoire du Québec von Marc Durand (Imago, 2011).

Marc Durand: L’Histoire du Québec
Essay
Imago, 2011
240 Seiten
20 €

In der Allée des Bouquinistes kam ich mit einem jungen Verkäufer ins Gespräch. Zu den Büchern, die er in letzter Zeit gelesen und für gut befunden hat, zählten Un petit pas pour l’homme von Stéphane Dompierre, Comment faire l’amour avec un nègre sans se fatiguer von Dani Laferrière, Volkswagen blues von Jacques Poulin und Borderline von Marie-Sissi Labrèche (Éditions Boréal, 2003). Auf diesem Buch basiert u.a. der Film Borderline von Lyne Charlebois (2008), der auch beim Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg gezeigt wurde.

Marie-Sissi Labrèche: Borderline
Roman
Éditions Boréal, 2003
170 Seiten
10,95 $

Weitere Infos zum Buch gibt es auf der Verlagswebsite editionsboreal.qc.ca.

Kurz vor einem Auftritt von Monogrenade auf den diesjährigen Francofolies de Montréal entdeckte ich einen jungen Montréaler, der in einem der schmalen Bücher las, die der Verlag Le Quartanier zu seinem 10-jährigen Jubiläum 2013 herausgegeben hat. Er las Royauté von Alexie Morin (Le Quartanier, 2013); sein Favorit war bis jetzt Samuel Archibald, Autor von dem bereits genannten Band Arvida, mit Quinze pour cent.

Alexie Morin: Royauté
Kurzgeschichten
Le Quartanier, coll. Série Nova, 2013
72 Seiten
9 $

Weitere Infos zum Buch gibt es auf der Verlagswebsite lequartanier.com.

Über den Dächern von Montréal liest es sich nicht schlecht, z.B. La fiancée américaine von Eric Dupont (Marchand de feuilles, 2012). In diesem doch eher umfangreichen Buch wird die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen erzählt, die ihren Ursprung in Europa hat, nach Québec emigriert war und deren Nachkommen ihren Weg nach Europa einschlagen. Der Roman hat seinem Autor 2012 bereits den Prix des collégiens, den Prix des libraires gebracht und zählte 2013 zu den Finalisten für den Prix des cinq continents.

Eric Dupont: La fiancée américaine
Roman
Marchand de feuilles, 2012
568 Seiten
34,95 $

Weitere Infos zum Buch gibt es auf der Verlagswebsite marchanddefeuilles.com.

Ich bedanke mich herzlich bei den zufällig angetroffenen Lesenden in Montréal, die ihre aktuelle Lektüre mit mir geteilt haben.